Flugverkehr (138): Frau Remen im Flugzeug

Da gibt es noch eine kleine Geschichte von Rachel Remen aus diesem schönen Buch Kitchen Table Wisdom (Weisheiten vom Küchentisch, heißt aber auf Deutsch Dem Leben trauen), die im Flugzeug spielt und auch so heißt: Im Flugzeug. Da steckt viel drin. Das Buch erschien vor 25 Jahren, könnte aber von gestern sein. Die Menschen verändern sich nicht groß.

Frau Remen war eingestiegen und hatte Platz genommen. Neben ihr war ein Platz frei, am Fenster saß ein eleganter älterer Herr. Eine Stunde später gab es das Mittagessen: Salat, ein Brötchen, ein Joghurt. Plötzlich tat der Herr einen leisen Schrei: Das Joghurt war ihm hinuntergefallen und hatte seine Schuhe, den Teppich und die Reisetasche beschmutzt. Sie sah, dass sein rechter Fuß gelähmt war. Was konnte man tun?

Ich hob den Arm und läutete. Nichts geschah. Einige Zeit später, als die Stewardess mit dem Getränkewagen vorbeikam, wies ich auf den Boden und bat sie um einen feuchten Lappen. Noch bevor ich ein weiteres Wort sagen konnte, ging sie an die Decke. »In diesem Flugzeug sitzen vierhundertzweiundfünfzig Leute«, schnaubte sie. »Ich tue, was ich kann, aber jetzt müssen Sie warten.« Ihre Abwehr verblüffte mich. Dann begriff ich, dass sie gar nicht auf den Gedanken kam, ich könnte auf ihrer Seite sein. »Wenn Sie mir einen feuchten Lappen bringen, kann ich das aufwischen«, sagte ich ruhig.

Das kommt mir bekannt vor. Jemand läutet, und niemnd kommt. Oder jemand rauscht vorbei und ruft, sie habe keine Zeit. Frau Remen und der Nachbar kamen ins Gespräch. Sie gestand ihm, sie sehe seit einiger Zeit schlecht. Er erzählte, er habe einen Schlaganfall gehabt, seine Hände seien gefühllos, dennoch wolle er seinen Sohn besuchen. Seit dem Schlag sei er inkontinent, müsse also Windeln tragen. Darauf verriet ihm Rachel Remen, sie habe einen künstlichen Darmausgang, seit einer Krankheit und schon seit dreißig Jahren, Auch sie sei immer besorgt, ob alles in Ordnung sei. Dann lächelten sie sich an.

Der Lappen kam. »Darf ich?« fragte sie und wischte alles sauber. Die Stewardess bedankte sich, der Pilot lächelte und bedankte sich durch eine kleine Aufmerksamkeit, und Frau Remen fühlte sich beschämt. Sie meinte, wir hätten irgendwie unser entgegenkommendes Wesen eingebüßt, seien taub und blind gegenüber den Problemen der anderen und schämten uns für unsere eigenen Leiden. Und:

Dabei gehört es zu den Grundgegebenheiten des Lebens, zu leiden. Wir alle leiden. Wir sind ungeheuer verletzlich geworden, nicht weil wir leiden, sondern weil wir uns voneinander entfremdet haben.

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