Der Sohn der Anderen

Einen guten Grundeinfall für einen Film wenn du hast, ist das Ding schon halb gedreht. (Etwas sonderbare Grammatik, aber warum nicht?) Der Einfall sollte symbolisch sein, also über sich hinausweisen und ein großes Thema auf kleinem Raum ausspielen und illustrieren: wie im Theater. Einen tollen Einfall hatte Lorraine Lévy für ihren Film Le fils de l’autre (1012): der Sohn der Anderen. 

Le_Fils_de_l'autreEs ist ganz einfach. Joseph, der 18 Jahre in der israelischen Familie Silberg gelebt hat, wurde kurz nach der Geburt in Kriegswirren irrtümlicherweise vertauscht und ist der Sohn von Leila Al Bezaaz aus Palästina. Deren Sohn Yacine gehört eigentlich in die israelische Familie, ist also der Sohn der Anderen, von Orith Silberg, für die Joseph nun ebenfalls der Sohn der Anderen ist, Leila.

Ginge es um einen Bayern und einen Österreicher, wäre das nicht weiter schlimm. Nun sind Israelis und Palästinenser verfeindete Völker. Israel fühlt sich von den Palästinensern bedroht, hat eine Mauer zu deren Territorium hochgezogen und öfter auch Granaten hinübergeschickt, und die Palästinenser haben auf israelischem Territorium Bomben gezündet. Viele Menschen starben. Israel lässt palästinensische Arbeiter nur für den Tag und nach scharfen Kontrollen auf ihr Gebiet, und die Palästinenser sind arm. Am 15. November 1988 rief die PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation) den Staat Palästina aus, der von den meisten Staaten anerkannt wird, völkerrechtlich aber umstritten ist.

Die Regisseurin Lorraine Lévy (geboren 1964) hat ihre Geschichte konsequent und auch ruhig ausspielen lassen. Joseph, der in der Armee Dienst tut, möchte gern Musiker werden; sein echter Vater, Said, fühlt sich auch zur Musik hingezogen. Yacine, eigentlich Sohn von Alon, einem höheren Angestellten im Verteidigungsministerium, ist eher Denker und hat soeben seine Studien in Paris abgeschlossen. Nun entdeckt man, dass die Blutgruppen nicht passen und kann seine Augen vor der Tatsache nicht verschließen.

Es gibt erste tastende Besuche der einen Familie bei der anderen, die Söhne tauschen sich aus, während die Väter mauern und sich abseits halten. Die Mütter sind natürlich besser und meistern die Situation eher. Dennoch umarmt Alon schließlich Joseph und sagt ihm: »Du bleibst für immer mein Sohn.« Das Ende ist offen und bleibt so. Da sind sich jedenfalls zwei Familien über die Grenzen und gegen Vorurteile nähergekommen und werden auch künftig miteinander zu tun haben.

r001-021Wohin führt diese verwickelte Lage? Man muss sich von alten Denkweisen lösen. Blutsbande werden überschätzt, sind aber nicht zu verleugnen. Da haben also zwei junge Männer zwei Familien, warum nicht? Und sie müssen sich fragen, was ihre Identität ist? Der Araber Joseph ist israelisch aufgewachsen, der Israeli Yacine arabisch. Beide Sprachen sind ohnedies verwandt. Was ist angeboren, was angelernt? Die alte Frage heißt im Englischen: nature versus nurture (Natur oder Nahrung). Wir wissen auch heute noch nicht, wieviel man dem genetischen Material zuschlagen soll und wieviel den sozialen Faktoren, also der Gesellschaft.

Am besten lässt man den Jungen ein wenig Zeit, zu sich zu finden. Irgendwann gehen sie ohnehin ihrer eigenen Wege, aber beide werden merken, dass sie Grenzgänger sind und Vermittler zwischen ihren beiden Kulturen sein könnten. Es wäre schön, wenn man sich näherkommen und sich besser verstehen könnte. Eine spannende Frage hat Lorraine Lévy da aufgeworfen und ein einfaches, aber wirkungsvolles Paradox inszeniert.

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