Wahrnehmung

Der Philosoph belauscht die Welt und versucht, ihr ihre Geheimnisse zu entwinden. Die Welt der Menschen äußert sich in Sprache. In einer Gondel oberhalb von Grindewald erklang eine weibliche Stimme und sprach von der Maskenpflicht zur »Wahrnehmung Ihrer Verantwortung«. Daran hielt ich mich fest. Ich nehme meine Verantwortung wahr, ich zeige sie konkret: Ich handle also. Das konnte noch nicht alles sein. 

r001-019Ich dozierte also (vor einem holländischen Ehepaar) über das englische Verbum »to realize«. Das entspricht dem Wahrnehmen. Es hat einen passiven und einen aktiven Aspekt. Ich nehme etwas wahr kann heißen: Ich sehe es. (G. W. F. Hegel dazu: »… das Bewusstsein ist als Wahrnehmendes bestimmt, insofern dies Ding sein Gegenstand ist; es hat ihn nur zu nehmen und sich als reines Auffassen zu verhalten; was sich ihm dadurch ergibt, ist das Wahre.«)

Ich nehme meine Chance wahr heißt: Ich ergreife sie. Im Englischen sagt man I realized it — es wurde mir klar —, doch auch: I realized my dream: Ich verwirklichte meinen Traum. Sehen und handeln sind eng verwandt.

Da denken wir an die Zetas, aber auch an die Philosophie. George Berkeley (1685-1753), Bischof von Cloyne, fragte bekanntlich einmal, ob ein Baum, der umfällt, auch umgefallen sei, wenn ihn niemand sehe. Damit wollte er provozieren und hielt fest:

Existenz ist percipi [wahrgenommenwerden] oder percipere [wahrnehmen]

Über Berkeleys Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis (1770) schreibt ein Kenner seines Werks (Gunthard Rudolf Heller):

Er behauptet: Was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, seien »Ideen […], die nicht unwahrgenommen existieren können« (S. 49; auch das ist nicht ganz falsch: tatsächlich bauen wir die Wirklichkeit aus unseren Wahrnehmungen und unserem Denken zusammen).

DSCN1298Wieder Berkeley: »Dass Körper kein Dasein außerhalb des Geistes haben, darf nicht so verstanden werden, als wäre dieser oder jener einzelne Geist gemeint; was ich sagte, gilt für alle Geister, welche es auch sein mögen« (S. 49). Das heißt: Auch Gott gehört dazu. Die Frage, ob die Welt noch da ist, wenn es keine Menschen mehr gibt, die sie wahrnehmen können, beantwortet Berkeley also so: Ja, die Welt ist trotzdem noch da, denn Gott sieht sie ja.

DSCN5382Gott sieht alles, heißt es. Ein einsamer Mensch kann sich behütet fühlen, falls er an ihn glaubt. Doch kann sich ungeahnt auch eine existenzielle Leere oder Unwirklichkeit einstellen. Dann fühle ich mich verlassen. Ein anderer Mensch sieht mich an an — und verleiht mir Wirklichkeit. Zwei Menschen vereinigen sich körperlich, und in der Bibel heißt es: Sie erkannten einander. Wir helfen einander, wahr zu sein und da zu sein. Und die Welt nehmen wir obendrein wahr — da wir ja noch da sind — und erhalten sie dadurch in ihrem Bestand. Die Welt sind wir selbst, das Bewusstsein betrachtet sich selbst, und Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes hat alles darüber gesagt.

Ein echter Philosoph ist man vermutlich erst, wenn man Hegel verstanden hat. So weit bin ich noch nicht. Doch das Zitat am Anfang war schon mal gut. Ich arbeite daran.

 

 

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.