Das Wandbild
Eine kleine Gespenstergeschichte von vier Seiten schickte mich wieder hinaus aufs Meer des Denkens. Man wird umhergeschaukelt, und Assoziationen wehen einen heftig an wie Winde. Pu Ssong-ling (1640-1715) schrieb Das Wandbild, das sich innerhalb von einer Stunde verändert. Kann das sein? Erklären kann das nur Magister Tschu, dem auf dem Bild eine Jungfrau aufgefallen war, die Blumen pflückte und lächelte, und ihre Lippen schienen sich zu bewegen …
Das Wandbild hing in einem Tempel. Tschu, der ihn mit einem Freund besucht hatte, besah sich das Mädchen auf dem Bild eingehend, und ihm schwanden die Sinne.
Da fand er sich plötzlich in der Luft schwebend, als ritte er auf einer Wolke, und es geschah ihm, dass er durch die Wand kam und in einem Raume war, wo Hallen und Gezelte von anderer Art als die Wohnungen Sterblicher sich aneinanderreihten. …
Die junge Dame berührt ihn, winkt ihm, geht voran, und er folgt ihr in ein Gemach.
Sogleich umarmte er sie, die sich ihm nicht verwehrte. … Er nahm sie in seine Arme, liebkoste sie und trank ihren süßen Duft.
Während noch »die Lust sie wie eine Ewigkeit umfing«, taucht ein grimmiger Herold auf, der andeutet, hier verstecke sich jemand, und sie sollten ihn herausgeben. Tschu versteckt sich unter dem Bett. In der Außenwelt (dem Tempel) hat der Freund ihn indessen vermisst. Der alte Priester klopft an die Wand, und es erscheint verstört der Vermisste, der durch einen »donnergleichen Hall« aus seinem Versteck hinausgejagt worden ist.
Da sehen sie, dass das junge Mädchen auf dem Bild die Haartracht einer erwachsenen Frau trägt. Nach der Begegnung mit Magister Tschu ist sie wohl keine Jungfrau mehr. Was sagt der Priester dazu? »Gesichte haben ihren Ursprung in denen, die sie sehen.« Das hilft den Freunden nicht sehr; sie »gingen von dannen«.
Plötzlich war ein Detail auf dem Bild verändert. Kann doch nicht sein; man hat es doch gesehen! Wir dürfen den Realismus in der Geschichte vielleicht nicht zu wörtlich nehmen. Es ist etwas passiert, und das Bild gibt es wieder wie einen Spiegel. In Ostasien gibt es eine innige Beziehung zwischen dem Wesen und einem Abbild, und der Artikel Die Katze und der Maler spricht davon. Der deutsche Lyriker Günter Eich, der Japan mochte, hat einmal das Gedicht darüber geschrieben.
Ein rosa Pferd,
gezäumt und gesattelt, —
für wen?
Wie nah der Reiter auch sei,
er bleibt verborgen.
Komm du für ihn,
tritt in das Bild ein
und ergreif die Zügel!
Wahrscheinlich müsste man mehr über das Verhältnis Bild/Original in Japan und China wissen. — Manches wirkt objektiv, ist es aber nicht. Es trafen sich russische Politiker bei offiziellen Anlässen. Dann wurde einer von ihnen verleumdet und verlor seinen Posten. Sogleich schnitt man ihn aus den Bildern der Treffen heraus. Er war nicht dabei! Er war eine nicht mehr existierende Person. Was sieht man auf einem Bild? Es lässt sich erklären. Doch 100 Jahre später, wenn mehr Wissen da ist oder eine andere Perspektive herrscht, interpretiert man das Bild anders. Es hat seine Bedeutung verändert, ist konkret anders geworden. Auch wir denken stets neu über unsere Vergangenheit nach und verändern sie damit; sie ist nie etwas Feststehendes.
Dann noch der Gedanke, dass in ursprünglichen Gesellschaften die Angst herrschte, wenn jemand fotografiert würde, büße er seine Seele ein. Man sei beraubt und seelenlos. Die enge Verbindung von Wesen und Abbild hat Oscar Wilde (1854-1900) in seiner Geschichte Das Bildnis des Dorian Gray 1891 dargestellt. Der schöne, aber gewissenlose Dorian erwirbt ein Bild, das auf magische Weise sich verändert. Er tut furchtbare Dinge, doch sein eigenes Gesicht bleibt jugendlich und frisch; an seiner Stelle verändert sich das Portrait, das Dorian wohlweislich versteckt. Am Ende, nach einer großen Krise, sticht Dorian Gray auf sein Bildnis wild ein und … fällt tot zu Boden, wonach sein Gesicht ist plötzlich hässlich, geradezu widerwärtig aussieht, während sein Bildnis wieder in Jugendfrische erstrahlt.
Was Oscar Wilde auf Mensch und Abbild verteilte, ordnete Robert Louis Stevenson (1850-1894) der Tag- und Nachtseite eines Menschen zu, der eine gespaltene Persönlichkeit besitzt. Mr Hyde ist böse, Dr Jekyll gut, und auch hier endet es in einer Katastrophe. Die wichtigsten Werke von Sigmund Freud waren da noch gar nicht erschienen; das Pathologische lag Ende des 19. Jahrhunderts mit seiner verlogener Moral irgendwie in der Luft.
Das führt uns zu dem Thema unserer Seele, ihrer Vielgestaltigkeit, und zum Doppelgänger, von dem wir vielleicht viele haben. Frederick Sculthorp hat einen von ihnen getroffen, Robert Monroe mehrere. Das muss erklärt werden und kommt in der ersten Junihälfte dran.
Illustrationen: Oben Shiba Kôkan, 1738-1818, Shinobu koi; Mitte: ein rosa Pferd, aus dem Internet; links unten Schneewittchen: die böse Stiefmutter.