TestpilotInnen (17): Mathias Rebitsch

Der Bericht von Mathias Rebitsch (1911-1990) hatte ich sehr gekürzt in den Halluzinationen im Alpinismus verwendet, damals sah ich nur die Entspannung und das Loslassen (im symbolischen Sinn) bei Absturzopfern in den Bergen. Jetzt sehe ich, dass viel mehr drinsteckt und muss Rebitsch länger zitieren. Er gehört eindeutig zu unseres Testpiloten; aber er ist einer von jenen, die nicht tot waren, sondern den Tod nur vor Augen hatten und deshalb immerhin einen Lebensrückblick erlebten.

105Mathias Rebitsch, schreibt uns Wikipedia, war zu seiner Zeit ein mutiger Kletterer und ein Pionier des Freikletterns. 1937 versuchte er mit Ludwig Förg die Eiger-Nordwand und harrte mit ihm bei schlechtem Wetter 100 Stunden dort oben aus. Förg schaffte es im Jahr darauf mit drei anderen. Rebitsch unternahm Expeditionen in den Anden und im Himalaya. 1954 musste eine Expedition, an der er mitwirkte, kurz vor dem Gipfel des Rakaposhi im Karakorum aufgeben; auch Anderl Heckmair (ebenfalls Eiger-»Bezwinger«) gehörte dazu. Rebitsch lehnte es ab, zu viele Haken anzubringen, und ging »frei« seinen Weg, was viel Mut kostet und Kondition erfordert.

Sein Artikel Lebensfilm erschien 1988 in der Zeitschrift Grenzgebiete der Wissenschaft (Innsbruck). In der Goldkappel-Südwand griff er nach einer Leiste, die genauso abbrach wie die beiden nächsten, die er probierte. Die Hände haben nichts, der Oberkörper wird nach hinten gerissen und hinausgeschleudert. Er muss weg vom Fels, erkennt er, und stößt sich mit den Beinen ab. »Die Höllenfahrt beginnt«, schreibt Rebitsch und, als die nächsten drei Haken ihn nicht halten können, scheint es vorbei zu sein: »… weiter, unaufhaltsam, schleudert mich eine Urgewalt in die Tiefe. Verloren. Aus …« Nun wird es ruhig.

028Und nun fühle ich keine Angst mehr; die Todesfurcht ist von mir gewichen, jede Gefühlsregung und Sinneswahrnehmung ausgelöscht. Nur mehr Leere, völlige Ergebenheit in mir und Nacht um mich. Ich »stürze« auch nicht mehr, ich schwebe bl0ß sanft auf einer Wolke durch den Raum, befreit von Erdgebundensein. Nirwana …?

Habe ich das dunkle Tor zum Totenreich schon durchschritten? In die Finsternis um mich kommt plötzlich Helligkeit und Bewegung. Aus dem Ineinanderwogen von Licht und Schatten lösen sich Linien heraus, erst schememhaft verschwommen, nehmen sie erkennbare Formen an. Naturalistisch-menschliche Gestalten und Gesichter, eine altvertraute Umgebung. Wie auf einem inneren Bildschirm flimmert ein Stummfilm, in Schwarzweiß. Ich sehe mich darin — als Zuschauer ihm gegenüber — wie ich, kaum an die drei Jahre alt, zum Krämer nebenan tripple. In der kleinen Hand den Kreuzer fest umschlossen, den mir meine Mutter gegeben hat, damit ich mir ein paar Zuckerln kaufe.

Szenenwechsel. Als Kleinkind gerate ich mit dem rechten Bein unter eine umfallende Bretterlage. Der greise Großvater, an einem Stock humpelnd, müht sich ab, die Bretter hochzuheben. Mutter kühlt und streichelt meinen zerquetschten Fuß. Zwei Ereignisse, an die ich mich sonst nie mehr erinnert hätte. Weitere Bilder aus meiner frühesten Kindheit flimmern auf; rasch wechselnd, bruchstückhaft, kaleidoskopartig durcheinandergewirbelt. Das Zelluloidband ist gerissen. Lichterschlangen fahren wie Blitze durch einen leeren, schwarzen Hintergrund; Feuerkreise, sprühende Funken, fackernde Irrlichter (Mein Kopf schlägt an der Wand an?)

DSCN2711Der Streifen läuft wieder. Seine Projektionen stammen nicht mehr aus der Zeit meines jetzigen Lebens. Und ich sehe mich auch nicht mehr auf der »Leinwand« als bloß inaktiven Zuschauer. Ich bin aus dem Film herausgetreten, agiere jetzt selber, körperlich, lebend, auf der raumhaft gewodenen »Bühne«; stehe als gewappneter Knappe in einem hohen Rittersaal; Edelleute in Prunkgewändern, aufgeputzte Burgfrauen, Humpen kreisen, buntes Treiben.

Vorbei, wie abgehackt. Neue turbulente Einstellungen aus solch ferner Zeit zucken auf. Dann schält sich ein ruhigbleibendes Motiv heraus: Ich schreite hinter einem Holzpflug her über Ackerland in breiter Ebene, Wolkenschiffe segeln darüber hin. federl_konradAbrupte Überblendung in ein Schlachtgetümmel. Wilde, fremde, langzottelige Reiter stürmen an, Spieße fliegen, Todesnot!
Alles lautlos, gespenstisch.

Plötzlich ein Ruf aus weiter Ferne: »Hias!« und wieder: »Hias, Hias!« — Ein innerer Anruf? Der eines Kampfgefährten? Auf einmal gibt es keinen Reiterkampf und keine Todesnot mehr.

Mathias Rebitsch hängt »wie ein zusammengeschnürter Mehlsack« an zwei Seilen über dem Abgrund. Er hat einen Sturz über 30 Meter überstanden, weil die Seile ihn schließlich doch hielten.

Der Film hat ihn sehr beschäftigt. Der zweite Teil, das werden wohl Erinnerungen aus früheren Inkarnationen gewesen sein. Was sonst?

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