TestpilotInnen (18): Eugen Guido Lammer

Schließen wir noch eine Erfahrung vom Berg an. Unser heutiges Beispiel ist ein alter Bericht, der sich auf das Jahr 1887 bezieht. Der junge Österreicher Eugen Guido Lammer wollte in jenem heißen Sommer mit seinem Kameraden August Lorria über die Matterhorn-Westwand auf den Gipfel. Er schrieb: »Die Katastrophe kam unscheinbar, nicht dramatisch.«

R.da49ccefa021718fcd471ee57bcbee21Lammer, 1853 geboren, war Doktor des Philosophie und später Professor (Lehrer) an österreichischen Gymnasien. Über ihn heißt es in einem Bergbuch:

Er war ein engagierter Verfechter des führerlosen Bergsteigens und des Alleingehens, dem bedeutende Unternehmungen glückten.

1895 heiratete er, und nachdem seine Frau beinahe tödlich verunglückt wäre und er mit ihr drei Kinder großzog, gab er den Bergsport auf, schrieb aber häufig und kunstreich darüber. 1945 ist Eugen Guido Lammer gestorben. — Lorria schlug am Matterhorn im Sommer 1887 seinem Mitkletterer ein Biwak vor, der den Vorschlag jedoch jedoch trotzig und höhnisch ablehnte. Sie mussten über Lawinenfurchen, und Steine zischten vorbei. Sie warteten ab.

Plötzlich sah ich mich doch um: Da schoß eine ganz kleine Lawine auf mich herunter, vielleicht eine jener Schneewellen, die ich im Abfahren mitgeschoben und sogleich gestaut hatte. Einen Augenblick früher, und ich hätte den Pickelstock tief in den Firn gerammt und mit meiner Brust das Ganze gehemmt. So aber schob die tückische Feindin leicht den ganzen triefend nassen Schnee unter meinen Füßen hinab; schon fallend hieb ich die Pickelhaue ein, doch wie durch Butter schnitt sie haltlos durch, und die nun vergrößerte Lawine, auf der ich lag, jagte gegen Lorria, der sogleich hinausflog in den gefürchteten Seilschlund.

IMG_1428Auf 200 Meter hat später der Kartograph Imfeld die Sturzhöhe geschätzt. Ich habe den grausen Flug mit bewussten Sinnen getan und kann euch künden, Freunde: Es ist ein schöner Tod. Ein Nadelstich schmerzt mehr als der Absturz. Auch nichts von Todesangst und Seelennot: Sobald die letzten Rettungsgriffe fruchtlos getan waren, da kam über mich die große Ergebung; der da hindurchgepresst wurde durch die enge Rinne, der da auf den weichen Körper des Gefährten geschleudert, dann durch den Zug des Seiles wieder rasend hinausgerissen wurde in die freie Luft, es war ein Fremder, ein gleichgültiges Stück Holz, und mein Ich schwebte über dem ganzen Geschehen als ruhevoller, neugieriger Zuschauer wie im Zirkus. Nur eines war lästig, die Sonne genau gegenüber (etwa 5 Uhr 30), die mich durch die Wirbelwolke von Schnee hindurch blendete, so dass ich die Augen schloss.

Und dabei jagte eine Sturzflut von Vorstellungen und Gedanken durch mein Hirn: viele Erinnerungen meiner Kindheit, meiner Heimat, meine Mutter, die elastisch abprallenden Kugeln auf dem Billard. (…) Hunderte von Seiten müsste ich füllen mit dieser Bilder- und Ideenmasse. Und währenddessen zugleich immer die ruhig sachliche Berechnung, dass wir noch so und so viel Höhe zu durchmessen haben, um dann sicher tot unten liegen zu bleiben. Ohne Aufregung, ohne Schrei, ohne Trauer, ganz erlöst von der Kette des Ichs!

dreams6Jahre vergingen so bei dem Sturze, Jahrhunderte.

Da wurde das ewige Brausen des Wasserfalles leiser, die Lawine zischte aus, ich öffnete die Augen, und grenzenloses Staunen kam über mich, keine Freude, kein Dank, keine Reue. Nun aber war die süße Ruhe, das ersehnte Nirwana zu Ende, und alsbald spannte mich das Leben von neuem in sein Joch: Sorgen, Planen, Handeln, die wohlbekannte böse Drei. 

 

Das war eine der Nahtod-Erfahrungen, denn Eugen Guido Lammer lebte ja noch, doch sein Bewusstsein hatte sich hinauskatapultiert aus dem Körper, wie dieser durch die Rinne katapultiert wurde. Sein Bewusstsein rechnete fest mit dem Tod, breitete sich schon mal vor, ohne jedoch völlig frei geworden zu sein. Man vermutet, dass bei vielen plötzlichen Unglücken der Geist (oder die Seele) sich vom Körper rechtzeitig trennt, weshalb kein Schmerz auftritt; doch den Erzählungen der Zeugen, die zurückgekehrt waren, kann man Glauben schenken. So wird es sein, wenn man stirbt. Nur bekommt er (oder sie) kein Rückfahrticket, sondern durchquert die Nebelwand und bekommt einen Platz zugewiesen … oder findet ihn von selbst, er muss nur alles geschehen lassen.

Das anfängliche Glück durch das Licht ist der Willkommensgruß durch die Schöpferkraft. Die »süße Ruhe, das ersehnte Nirwana« sind auch drüben nicht von Dauer. Leben ist Bewegung, ist Veränderung, ist Entwicklung. Planen und Handeln sind auch dort gefragt, die Liebe erhält ihren Rang, und das ist die gute Drei.

 

 

 

 

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.