Die Dummheit

Stupidità (Dummheit) heißt ein neuer, 165 Seiten langer Essay von Gianfranco Marrone, Dozent für Semiotik an der Universität Palermo. Er holte sich Material bei den großen Autoren Flaubert, Musil, Deleuze, Adorno und Umberto Eco und denkt weiter: Früher sei der Dumme oder der Blöde (im 19. Jahrhundert war Blödigkeit etwas wie Naivität) »der Verrückte gewesen, der Narr, das Genie, der Heilige oder der Künstler«. Heute gehe der Dumme »im undifferenzierten Magma des Zeitgenössischen unter«.

Der heutige Dumme ist nicht mehr der liebenswerte »Idiot« Dostojewskis, der allen Gutes will und trotzdem untergeht, sondern der Minderbemittelte im globalen Dorf. Er hockt im Mittelpunkt, denn dumm sind laut Marrone die Gesetze, die Bürokratie, und die Dummheit sei »cool« geworden, wenn man ans Fernsehen, an die Fernsehwerbung, den Autoverkehr  und das Leben selber denke. Früher war es der Anti-Intellektualismus der Rechten, heute ist es ein generalisierter solcher. Die Kultur sei total »out« und interessiere keinen mehr.  (Bild des Autors, Bompiani) 

Die Dummen seien die, die nur eine Sprache sprächen, nur einen Verhaltenskodex hätten, die in einer einzigen anthropologischen Realität lebten, die sie für die und beste hielten. Der Dumme verstehe den anderen nicht, weil er ihn nicht kenne; intelligent sein heiße dagegen, sich den anderen gegenüber zu öffnen, die Unterschiede zu leben und vernünftig zu argumentieren.  

Es gebe nichts Dümmeres, als sich für intelligent zu halten und das vor sich als Wert herzutragen. Heute sei der Dumme der Schlaue (»furbo«) des Stadtteils, nur sei der Stadtteil zum Slum der Megalopolis geworden. Es ist schwer, sich von den Dummen abseits zu halten. Vielleicht sollte man sich für dumm halten, um es nicht zu sein, meint Marrone. Man denkt an Sokrates: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Das ist fast eine arrogante Aussage, denn um zu wissen, dass man nichts weiß, muss man eine Menge wissen.  

Der Deutsche  

Ich habe natürlich auch das Buch Stupidity von Avital Ronell gelesen, das 2002 erschien. Die israelisch-amerikanische Germanistin ist 1952 geboren und lehrt in New York. Sie kennt die deutsche Literatur und Geschichte und schreibt so böse wie ausgefeilt: »Seltsam genug − in vielen der Texte, die sich der Einrichtung einer semantischen Kette zur Herstellung von Dummheit, Idiotie, Blödheit, Naivität und dem Lächerlichen und so weiter widmen, erscheint in der vordersten Linie unweigerlich die Gestalt eines Deutschen: der nicht wegzudenkende Buffo im Geschäft.« Den Deutschen kämen die schlechtesten Noten und die höchste Sichtbarkeit in der Weltgeschichte der Dummheit zu. (Illustration: Ausschnitt aus Carl Spitzweg, Die Dachstube, 1882)  

Ja, ich bin auch manchmal etwas naiv, alles andere als furbo wie die Italiener. Ja, der Taugenichts von Eichendorff, der Simplicissimus, Eugenspiegel, der liebe Augustin aus Lindau von Horst Wolfram Geissler, außerdem andere Darsteller, der gespielte Naivling Karl Valentin und alle Komödianten, die sich gerne als unterbelichtet geben. Aber: Einstein! Der war intelligent, aber auch ein lieber Mensch, laut Katja Mann. Die Germanistin zitiert – zu Recht – unseren Philosophen Heidegger. Auf die Frage, warum wir in der Provinz bleiben, schrieb er: »Der Gang der Arbeit bleibt in das Geschehen der Landschaft eingesenkt.«  (Foto: auch ein Beispiel für Dummheit. Einsteins Bild auf einem Werbe-Aschenbecher.)    

Dumme lebten, schreibt Ronell, unter einem guten Stern. Das Glück lache ihnen zu. Seine Dummheit sei wie ein Schutzmantel. Die dümmsten Bauern hätten die größten Kartoffeln, heißt es nicht so? Und sie stellt zur Diskussion: »Ist Erfahrung überhaupt möglich ohne die Erfahrung der Dummheit?«     

 
 
 

 

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