Verschmelzung

Unsere Serie über Spaltung und Zersplitterung ist nun durch dazwischenliegende Beiträge ihrerseits zersplittert worden, aber wir wissen ja: Wir müssen das Auseinanderstrebende zusammenhalten. Das Problem bei vielen Störungen ist, dass sich das Ich durch zuwenig Liebe nicht richtig festigen konnte und dazu neigt, mit Objekten und anderen Subjekten zu verschmelzen. Das ist ein Punkt, der mich sehr interessiert.

27 VerstecktBei Borderline-Patientinnen herrscht im Verliebtsein das totale Einssein mit dem Partner, der sich geradezu vergöttert fühlt; bis dann das Gegenteil eintritt, die Entfremdung und die Kälte. Schrieb nicht Jaspers, wir fänden unseren Weg nur durch die Orientierung an den Extremen? Zwischen ihnen pendeln wir hin und her.

Das Kind identifiziert sich total mit der Mutter, die ihm andauernd nahe ist — weil es noch nicht ein Ich besitzt, das weiß, dass es etwas sieht. Das Bewusstsein wird zu dem, das es betrachtet. In der Meditation kann das geschehen, und Künstler haben auch gesagt, dass sie mit ihrem Kunstwerk eins werden, dass es sie ist. Nicht immer ist die Verschmelzung pathologisch. Es ist ganz normal, dass sich zwei Menschen etwa bei einem Firmenanlass näherkommen und dann »sich austauschen« und sich für ähnlich halten, und bei Liebespaaren weiß man, dass sie »ein Herz und eine Seele« sind und fast für den anderen und wie der andere denken.

1 AlchemiePhysiker kennen die Geschichte der verschränkten Elektronen, die nicht voneinander lassen können; wenn sie Lichtjahre entfernt sind, weiß man, wenn man die Drehrichtung (den spin) des einen misst, dass das andere die komplementäre Drehrichtung besitzen wird. Wir Menschen sind alle ähnlich, und wenn wir gemeinsam an einem Projekt arbeiten, sozusagen an einem Strang ziehen, werden wir eine Einheit: »We were one man, not thirty«, schrieb Melville über Ruderer beim Walfang, die wie in Trance durchs Wasser glitten. Durch eine nationalistische Erhebung fühlen sich alle plötzlich wie ein Körper: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! Würde sich die Menschheit nur endlich als eine einzige empfinden! Das Viele wird zum Einen. Leider ist diese Einheit von Politikern oft missbraucht worden.

Dann gibt es Menschen, die sich als depersonalisiert empfinden, die nichts fühlen können und wie Fremde auf dem Erdboden dahinwandeln. Die Entfremdung des Arbeiters, der acht Stunden am Tag etwas tut, was ihn eigentlich nichts angeht. Andere verstehen ihre Umwelt nicht mehr und ziehen sich von den Medien und von Interaktionen zurück, weil das nichts mit ihnen zu tun hat. Auch das ist manchmal eine normale Reaktion, und der Buddhist würde sich für auf dem richtigen Weg befindlich halten, denn er will keine Bedürfnisse und kein Ich haben. Man misst seinen Zustand ja oft an den in der Gesellschaft gültigen Standards und hält für unnormal, also für krank, was vielleicht ein Stadium der persönlichen Entwicklung darstellt.

DSCN4328An die 5 Prozent der Bevölkerung sind gut hypnotisierbar. Bei ihnen entsteht kurzzeitig ein »verborgener Beobachter«, wie ihn Ernest Hilgard genannt hat, der dem Hypnotisierten zeigt, was er sehen darf und was nicht; letztlich geht es da um Suggestibilität. Zerstreutheit kennen wir auch. Wir tun etwas, ohne mit dem Bewusstsein dabeizusein — und die Uhr liegt plötzlich da, wo man sie nicht vermutet hat, und man könnte fast meinen, jemand anderes hätte das getan. Man vermisst etwas und argwöhnt, es sei einem gestohlen worden; dabei hat man das Objekt nur verlegt. Extrem (und wiederum pathologisch) ist das bei der Demenz: Plötzlich wissen die Betroffenen nicht mehr, wie sie hierher gekommen sind, wie sie in ihr Zimmer gelangen, und sie wollen heim, und niemand war bei ihnen, wo doch die Frau soeben das Heim verlassen hat.

Das Medium geht in Trance und überlässt seinen Körper einem Geist, der durch es spricht, sodass sich sogar die Gesichtszüge und die Stimme des Mediums verändern. Der willige Mitarbeiter wird zum Instrument der Firma, der Polizist zum Arm des Gesetzes, der Richter zum Gott der Justiz. Wir geben oft Autonomie ab, weil das von uns verlangt wird, und wir müssen abwägen, wie weit wir darin gehen dürfen. Dann wiederum wird jemand von einem Dämon besessen, ohne das gewollt zu haben (heute sicher ganz seltene Fälle), während andere von einer Idee besessen sind, ins Auto steigen und unschuldige Menschen totfahren oder sie mit einer Waffe totschießen.

Dies alles sind Phänomene der »conditio humana«, des verrückten Menschenlebens, und ein Phänomen ist die »Erscheinung des jeweilig erfahrbaren Gegenständlichen, wobei Erscheinung ihrerseits wieder bestimmt werden kann durch das Inerscheinungtreten eines dahinterstehenden Wesens« (las ich bei Varela/Thompson), und dieses Wesen ist das Sosein des dunklen, unergründlichen Menschen. Alle Spielarten kennen wir, nichts Menschliches ist uns fremd (Goethe), und aus all der Buntheit und dem Grellen ensteht auch Kreatives, und: Das Leben bleibt siegreich!

Illustrationen: zwei Bilder von Rolf Hannes, Freiburg: Versteckt und Alchemie; und eine dritte Aufnahme, irgendwo gemacht.

 

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