Lessings Gespenster

Als die Klassik um 1810 ermüdet und das Geistreiche auf dem Rückzug war, rief Goethe aus: »Ein Mann wie Lessing täte uns not!« Gotthold Ephraim Lessing war 1781 gestorben, erst 52-jährig (er verwand den Tod seiner Frau nicht), doch hier auf manipogo kommt er ausgiebig zu Wort, heute mit einem Aufsatz aus seiner Hamburger Dramaturgie, bestehend aus 104 Beiträgen, die als erste Theaterkritiken in Deutschland gelten können. 

SDC11025 (1)Das ist kein Wunder; denn 1767 hatte sich in Hamburg das erste echte Theater konstituiert, das allerdings Ende 1768 schon wieder seine Pforten schloss. Doch der Anfang war gemacht, Mannheim und Weimar folgten, und Deutschland bekam doch eine Theaterlandschaft. (Links: Was wir vom Mannheimer Nationaltheater sahen vor 2 Wochen). Das elfte »Stück« (so nennt Lessing seine Beiträge) vom 5. Juni (»Junius«) 1767 befasst sich mit Gespenstern, darum muss es hier stehen. Seine großen Theaterstücke (Minna von Barnhelm, Nathan der Weise) waren damals noch nicht geschrieben, aber Lessing begriff das Theater. So fängt er an:

Die Erscheinung eines Geistes war in einem französischen Trauerspiele eine so kühne Neuheit, und der Dichter, der sie wagte, rechtfertigt sie mit so eignen Gründen, dass es sich der Mühe lohnt, einen Augenblick dabei zu verweilen.

Dann zitiert er Voltaire, den Aufklärer (rief er den Geist auf die Bühne?), der argumentierte, man glaube heute (1767) zwar nicht mehr an Gespenster, doch die ganze Antike hindurch habe man sie für wahr gehalten und die Religion habe sich nicht offen dazu bekannt, aber warum sollte man das Phänomen nicht erneuern? Lessing, der scharfe Denker:

Diese Ausrufungen, dünkt mich, sind rhetorischer als gründlich.

Er selber ist auch ein geschulter Rhetoriker und zerpflückt Voltaires »Ausrufungen« also rhetorisch und gründlich noch dazu. Die Religion möge man aus dem Spiel lassen. Es geht um den Dichter, und der ist kein Geschichtsschreiber; die historische Wahrheit ist ihm nur Mittel zum Zweck, denn er, der Dichter, will uns rühren. Nun werde ich eine längere Passage Lessings zitieren, die zeigt, wie trefflich er argumentiert (und seine Worte können auch heute — 2022 — noch gelten):

SDC10894Wir glauben keine Gespenster mehr! Wer sagt das? Oder vielmehr, was heißt das? Heißt es so viel: wir sind endlich in unsern Einsichten so weit gekommen, dass wir die Unmöglichkeit davon erweisen können? … Wir glauben jetzt keine Gespenster mehr, kann (also) nur so viel heißen: in dieser Sache, über die sich fast ebensoviel dafür als dawider sagen lässt, die nicht entschieden ist und nicht entschieden werden kann, hat die gegenwärtig herrschende Art zu denken den Gründen dawider das Übergewicht gegeben; einige wenige haben diese Art zu denken, und viele wollen sie zu haben scheinen; diese machen das Geschrei und geben den Ton; der grösste Haufe schweigt und verhält sich gleichgültig, und denkt bald so, bald anders, hört bei hellem Tage mit Vergnügen über die Gespenster spotten und bei dunkler Nacht mit Grauen davon erzählen.

Lessing erwähnt dann den berühmtesten Geist auf der Bühne, Hamlets Vater, der große Wirkung hinterlässt. Nur Hamlet sieht ihn.

Das Gespenst wirkt auf uns mehr durch ihn (Hamlet), als durch sich selbst. Der Eindruck, den es auf ihn macht, geht auf uns über, und die Wirkung ist zu augenscheinlich und zu stark, als dass wir an der außerordentlichen Ursache zweifeln sollten. 

Ein Gespenst (oder besser: den Geist eines Angehörigen) zu sehen ist ein subjektives Erlebnis, weil es meist mit dem inneren Auge geschieht; aber Film und Theater wollen es objektivieren und stoßen dabei an ihre Grenzen.

Als Lessing starb, ehrten Goethe und Schiller ihn in den Xenien mit den Sätzen, die Homer dem Achilles nachrief:

Vormals im Leben ehrten wir dich wie einen der Götter,
Nun du tot bist, so herrscht über die Geister dein Geist.

 

 

 

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