An zwei Orten
Ich lese ja gern in diesen kurzen buddhistischen Stücken herum, eins für jeden Tag, und dann fand ich eine Episode, die rätselhaft genug ist. Diese Geschichte ist manipogo pur. Lasst euch überraschen. Es ist aus dem Abschnitt Zen-Mystizismus und trägt den Titel An zwei Orten.
Goso erzählte die Geschichte von Seijo:
»Als sie ein Säugling war, wurde Seijo ihrem Cousin Ochu anvertraut. Als sie heranwuchs, wurde sie sehr schön, und ihr Vater wollte einen höhergestellten Mann für sie finden. In der Zwischenzeit hatten sich sie und Ochu ineinander verliebt. Ochu brach es das Herz, Seijo nicht heiraten zu können; also ging er fort und fuhr auf einem Schiff den Yangtse-Fluss hinauf. Um Mitternacht hörte er, wie jemand am Ufer entlanglief und seinen Namen rief; es war Seijo. Sie segelten gemeinsam zu einem entfernten Ort und hatten gemeinsam zwei Kinder.
»Fünf Jahre vergingen, und das Heimweh überkam sie sowie der dringende Wunsch, ihre Eltern wiederzusehen. Sie bestiegen mit ihren zwei Kindern ein Schiff und kehrten nach Hause zurück. Als sie ankamen, ließ Ochu Seijo und die zwei Kinder im Schiff, während er zu ihrem Vater ging mit der Absicht, sich dafür zu entschuldigen, dass er ihnen ihre Tochter genommen hatte.
Doch der Vater antwortete, dass Seijo über die Nachricht von Ochus Abreise so verzweifelt gewesen war, dass sie in ein Koma fiel; und dass sie bewusstlos im Bett gelegen hatte, fünf Jahre lang.«
Goso schloss aus der Geschichte: »Seijo war also an zwei Orten. Doch wo war ihre Seele?«
Bilokation nennt man das. Spontan hat mich das an mein Gedicht Fünf Sekunden erinnert. Wir wollen nun nicht näher nachfragen und den Text einfach so stehenlassen, der vielleicht nur eine unerhörte Möglichkeit aufzeigen soll. Wir wissen nicht, was in einem Menschen vorgeht, der im Koma liegt. Er hört womöglich, was um ihn herum gesprochen wird, kann aber nicht reagieren. Seine Seele geht vielleicht auf Reisen, und der Körper liegt Jahr um Jahr reglos da. Dieses Wesen lebt im Zwischenreich (Bardo oder barzakh), in einem dem Tod verwandten Zustand, und wir sind ratlos.