Kips Abschied

Kip Singh ist ein junger Inder und hat in England gelernt, versteckte Sprengladungen aufzuspüren und zu entschärfen. Ein Wunder, dass er zwei
Kriegsjahre überlebt hat, bevor er im Sommer 1945, schon nach der deutschen Kapitulation, in einer Villa in der Toskana Unterschlupf findet. In ihr kümmert sich die Krankenschwester Hana um einen verbrannten Mann. Er ist Der englische Patient, wie Michael Ondaatje sein Buch nannte, das 1991 erschien und 1996 verfilmt wurde. 

Hana und Kip sind ineinander verliebt. Alliierte Soldaten sind weit weg, Florenz liegt 30 Kilometer östlich, der Krieg ist zu Ende, und so leben sie ein paar Wochen in Zeitlosigkeit und wie in einem Niemandsland. Caravaggio, der amerikanische Meisterdieb, ist nur ein Zaungast. Doch eines Morgens dreht Kip durch und läuft fast amok. (Im Folgenden im Kursivdruck Zitate aus Ondaatjes Buch. Das Bild: Naveen Andrews als Kip im Film von Anthony Minghella.)

Kip gleicht einem Verdammten, einem Weltverlorenen, sein braunes Gesicht in Tränen. Er dreht sich um und schießt in das alte Wasserbecken, und der Mörtel sprengt Staub aufs Bett. Er schwenkt das Gewehr zurück, dass es auf den Engländer zielt.

Was ist passiert? Kip hält eine Rede. Er ist außer sich.

Ich bin mit den Traditionen meines Landes groß geworden, aber später mehr noch mit denen Ihres Landes. … Ihr standet für korrektes Benehmen. Ich wusste, wenn ich die Teetasse mit dem falschen Finger hob, würde man mich vertreiben. … Ihr und danach die Amerikaner haben uns bekehrt. Mit ihren missionarischen Geboten. Und indische Soldaten haben ihr Leben als Helden vergeudet, damit sie pukkah sein konnten. Ihr habt Kriege geführt, so wie ihr Kricket gespielt habt. … Hier … hören Sie, was Ihre Leute getan haben.

service-pnp-ds-02900-02956rEr stülpt dem Engländer Kopfhörer über.

Eine Bombe. Dann eine zweite. Hiroschima. Nagasaki.

Mein Bruder hat es mir gesagt. Kehre Europa nie den Rücken zu. Den Geschäftemachern. Den Vertragsschließern. Den Kartographen. Trau nie den Europäern, hat er gesagt. Schüttle ihnen nie die Hand. Aber wir, o ja, wir waren leicht zu beeindrucken — von Reden und Medaillen und euren Zeremonien. Was habe ich in all den letzten Jahren gemacht? Glieder des Bösen weggeschnitten, unschädlich gemacht. Wozu? Damit das hier passiert?

Kip hat mit dieser Welt abgeschlossen.

Ein furchtbares Geschehen, das da über Kurzwelle ausgestrahlt wird. Ein neuer Krieg. Der Tod einer Zivilisation. … Vor Einbruch der Dunkelheit hat er alles Militärische aus dem Zelt entfernt, die Gerätschaft zum Bombenräumen, hat alle militärischen Abzeichen von der Uniform getrennt. Bevor er sich hinlegte, wickelte er den Turban auf, kämmte sich das Haar und band es dann zu einem Knoten hoch …

Kip holte das Motorrad, eine Triumph, aus seinem Versteck, Caravaggio umarmte ihn noch einmal, und dann jagte Kip im Zickzack den Berg hinunter, nahm Wege, die er kannte, fuhr nach Cortona hinauf, weiter nach Arezzo, bergab zur Küste hin bis Gabicce Mare, doch bald, auf der Brücke über den Ofanto, nimmt die Reise ein Ende. Kip und sein Motorrad geraten ins Schleudern, schliddern dahin, kippen nach unten ins Wasser.

Kips Abschied. Es brach ihm das Herz. Oder nicht? Eine Minute nach dem Aufprall:

Der bloße Kopf des Pioniers taucht aus dem Wasser auf, und Kip zieht heftig alle Luft ein über dem Fluss.      

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