Leben der Kunst (2)

Mit dem Titel der Serie bin ich nicht zufrieden; aber vielleicht kommt mir mal ein besserer. Das Leben ahmt die Kunst nach, weil diese das Leben als Ausgangspunkt nimmt, und manchmal greifen beide ineinander, aber wir holen unsere Beispiele vor allem aus der Kunst, auch wenn heute eine Ausnahme gemacht wird … Aber lassen wir sie sich entwickeln, die Serie. 

Ich fing Das Augenspiel an, Elias Canettis Autobiografie aus den Jahren 1931-37 hauptsächlich in Wien, doch einmal hält er sich zu einem Kongress in Strassburg auf und berichtet:

Die Altstadt war nicht groß und wie von selbst fand man sich immer wieder vor der Fassade des Münsters. Es geschah ohne Absicht und war doch, was man sich eigentlich wünschte. Die Figuren an den Portalen zogen mich an, die Propheten und besonders die törichten Jungfrauen. Von den weisen Jungfrauen war ich nicht berührt, ich glaube, es war das Lächeln der törichten, was mich für sie einnahm. In eine von ihnen, die mir die schönste schien, habe ich mich verliebt. Ich bin ihr später in der Stadt begegnet und führte sie vor ihr Abbild, das ich ihr als erster wies.

Welche mag er gemeint haben? Die zweite von rechts?

Verwundert betrachtete sie sich in Stein, so hatte der Fremde das Glück, sie in ihrer Stadt zu entdecken und überzeugte sie davon, dass sie lange vor ihrer Geburt dagewesen war, lächelnd am Portal des Münsters, als törichte Jungfrau, die in Wirklichkeit, wie sich zeigte, gar nicht töricht war, es war ihr Lächeln, das den Künstler dazu verführt hatte, sie unter die sieben Linken ins Portal zu reihen.

Canetti war vielleicht 30 Jahre alt, aber seinen Mut muss man bewundern: Hält eine Frau auf und sagt ihr »Sie sind am Münster abgebildet, kommen Sie!«, und das konnte auch ein plumper Anmach-Versuch sein. Ich sehe manchmal Bilder aus dem Mittelalter und denke mir, ob diese Gesichter heute auch zu sehen sein würden, wir sind ja alle verwandt, und vielleicht gilt das auch für die Vergangenheit, und wir kennen nur unsere vielen Doppelgänger nicht.

(Bei Zürich sprach mich ein Radfahrer an, zwei Mal, und als ich anhielt, fragte er mich: »Bist du nicht der Harry Hasler?« Als ich den Namen in die Suchmaschine eingab, merkte ich, dass er sich über mich lustig gemacht hatte. Hasler ist eine Kunstfigur, eine Art Freak, ein Big Lebowski der Schweiz, hier ein Clip.)

Ein Bildhauer braucht ein Modell, ein Maler oft auch, und wir denken an den Judas des Leonardo. Da Vinci hatte das Letzte Abendmahl schon fertig, nur der Judas fehlte ihm. Lange forschte er in den Gesichtern Mailands, aber keines war verschlagen genug … bis er einen gierigen, betrügerischen deutschen Pferdehändler traf. Der wurde zu seinem Judas. (Unten: Ausschnitt aus dem Letzten Abendmahl des dänischen Malers Carl Bloch, 1834-1890, Judas rechts.)

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In der Geschichte Padron Dio (Chef Gott) von Pirandello, der übrigens oft Identitätsfragen abhandelte, trifft es einen armen Hirten unverdient. Ein Maler bat ihn, für ihn — und ein Altarbild der einzuweihenden Kirche —Modell zu stehen, mit einer Tunika, einer Rute in der Hand und Wut im Gesicht. Der Hirte war entsetzt, als er sich beim ersten Gottesdienst in der Kirche als einen der Richter erkannte, die Jesus Schläge versetzen … »Nehmt mich da weg! Ich bin Christ!« schrie er und drohte so lange, den Maler umzubringen, bis man ihm zusicherte, das Gesicht zu verändern. Doch der Spitzname »Judas« (giudè) blieb ihm, und letztlich nannte er sich selber so.

 

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