Die weise Sonne
»Ihr Sonnenlosen!« klagte Atahuallpa in der Novelle von Jakob Wassermann, auf den mich Elias Canetti gebracht hatte (und wundersamerweise fand ich gleich danach das Reclam-Bändchen mit der Gold-Erzählung), der in Wien einen Weisen kannte: Dr. Sonne.
Wir erinnern uns: Canetti schrieb in Das Augenspiel über seine Jahre 1931-1937 in Wien. Zu dem Polemiker Karl Kraus hatte er ein gespaltenes Verhältnis ― da sah er in einem Kaffeehaus einen Mann, der sich hinter einer Zeitung versteckte und Kraus ähnlich sah: Doktor Sonne. Was zog Canetti so sehr an, dass er bei ihm eine vierjährige (inoffizielle) Lehrzeit absolvierte, in der er alles begierig aufsaugte, was Sonne von sich gab?
Canetti antwortet selbst:
Da war zuerst einmal das Fehlen alles Persönlichen. Er sprach nie von sich. Er sagte nie etwas in der ersten Person. … Er wirkte wie der sachlichste aller Menschen, aber nicht, weil ihm Sachen wichtig gewesen wären, sondern weil er nichts für sich selber wollte.
Dr. Sonne war Jude, ohne es wichtig zu nehmen, er kannte viele Seiten aus Werken (etwa aus der Bibel) auswendig, er kannte sich im Althebräischen ebenso aus wie im Arabischen, und er gab zu allem nicht nur einen Kommentar ab, sondern lieferte, wie Elias Canetti schreibt, ein präzise formuliertes Gutachten. Sein Schluss:
Dr. Sonne sprach so, wie Musil schrieb.
Man lese eine Seite aus dem Mann ohne Eigenschaften, und alles wird klar. Dr. Sonne behandelte seine Themen erschöpfend und wandte sich dann anderen zu, und alles in einer Klarheit, die keine Fragen zuließ, nur Staunen. So wurde der unscheinbare Mann zum Guru des Jung-Autors und späteren Nobelpreisträgers. Dr. Sonne wurde ihm zum Vorbild, denn geht es nicht darum: aus der Distanz Phänomene präzise und einfühlsam zu beschreiben, ohne Urteile zu fällen?
Nichts, wovon Sonne sprach, wurde durch ihn abgeschafft und erledigt. Es war interessanter als zuvor, es war gegliedert und erleuchtet. … Wenn er mir Psalmen übersetzte oder die Weisheitssprüche, erschien er mir als königlicher Dichter. Dass dieser selbe Mann, Prophet und Dichter zugleich, so vollkommen verschwinden konnte, dass er hinter Zeitungen verborgen nicht zu bemerken war, aber selbst alles um sich herum gewahrte, dieses Fehlen einer Farbe, so könnte man es nennen, und dass er ohne jeden Anspruch lebte, war an ihm das erstaunlichste.
Elias Canetti beschloß seine 20-seitige Lobeshymne auf Dr. Sonne mit den folgenden Worten:
Er war in vielem ein Vorbild, seit ich ihn gekannt habe, konnte mir niemand mehr zum Vorbild werden. Er war es auf die Art, die Vorbilder haben müssen, wenn sie ihre Wirkung tun sollen. Er erschien mir damals, vor 50 Jahren, unerreichbar und unerreichbar ist er mir geblieben.