Das Judentum und das Wort
Marek Halter, 1936 in Warschau geboren, will mit seinem Buch Alles beginnt mit Abraham (1999) das Judentum »mit einfachen Worten« erzählen. Damit meißelt er viele Erkenntnisse heraus, die uns sodann klar vor Augen stehen. Wir konzentrieren uns hier auf das Judentum und sein Verhältnis zum Wort, zur Sprache.
In seiner Kindheit geriet Halter in eine wilde Gruppe von Halbwüchsigen, und damit sie ihn nicht verprügelten, erzählte er eine Geschichte ― und wurde verschont.
So habe ich in dieser Gruppe zum ersten Mal und völlig unbewusst die Grundlage jüdischen Denkens entdeckt: die wunderbare Macht des Wortes.
Oft standen sich zwei Streithähne geenüber, umringt von der Gruppe. Die beiden beschimpften sich und argumentierten. Halter sah:
Und stets schlug derjenige, der keine Argumente mehr fand, als erster zu! So entdeckte ich auf die prosaischste und pragmatischste Art und Weise den anderen, so fundamentalen Teil der jüdischen Tradition: die Gewissheit, dass Gewalt dort beginnt, wo das Reden aufhört.
Irgendwann kommt Marek Halter zu Moses, der das jüdische Volk aus der Knechtschaft in die Freiheit führen soll.
Wie? Wie wird er sein Volk aus der Sklaverei befreien?
»Durch das Wort!« antwortet ihm Gott.
An dieser Stelle wird die menschliche Rede zum ersten Mal als ein Tun bezeichnet.
Hat nicht der Herr selbst die Welt durch das Wort erschaffen? Das Wort, so spricht Gott zu Moses, ermöglicht nicht nur die Erschaffung der Welt, sondern verleiht dem Menschen erst seine ureigenste Existenz und wird ihm zur unumschränkten Waffe der Befreiung. Und das gilt heute genauso wie damals. Nichts hat sich daran geändert. Es ist stets die erste Sorge der Henker und Despoten, ihre Opfer des Wortes zu berauben. Denn sobald sie (wieder) zu Wort kommen, wird eben das Wort sie befreien. Die Zensur ist zeitlos und erfüllt stets dieselbe Funktion.
Der Autor erklärt uns noch, dass die hebräischen Wörter immer einen Zahlenwert besitzen ― und der für sefer (Buch), 340, entspricht dem Zahlenwert für chem (Name). Unten eine Vitrine in einer Ausstellung der Synagoge Thann, Elsass, September 2017.
Die Exegeten zogen daraus sogleich einen Schluss: Hinter jedem Buch steht ein Name, eine Person. Ein Buch zu vernichten, bedeutet in diesem Falle, ein Menschenleben zu vernichten. Daher müssen Juden alle Bücher aufheben, selbst wenn sie schon abgenutzt, von Nässe angegriffen oder bereits zerfallen sind. Wenn ein Buch wirklich nicht mehr zu benutzen ist, vergräbt man es und spricht ein Gebet, wie man es auch für einen Menschen tun würde.
Diese Liebe zu Texten zieht auch die Liebe zum Wissen, zum Gedächtnis, zum Denken und schließlich die Freiheitsliebe nach sich. Sobald eine Macht gegen Bücher vorging, waren auch die Freiheit und das Wesen des Menschen in Gefahr.
Schließlich gibt uns Marek Halter noch mit:
Noch heute wird die Einheit des jüdischen Volkes (im weitesten Sinne des Wortes) vor allem durch die Gegenwart der Texte und die Beziehung der Menschen zu ihnen (so schwankend sie auch immer sein mag) hergestellt und aufrechterhalten.
Die religiösen Juden glauben, dass das Wort des Ewigen das ursprüngliche Wort ist und dass die von Moses in die steinernen Tafeln geschriebenen Texte von Ihm diktiert wurden. Der Versuch, ihren ― womöglich mehrfachen ― Sinn vollkommen zu erfassen, das Nicht-Gesagte zu entschlüsseln und dessen Schweigen zu verstehen, das ist für sie der sicherste Weg zu Gott.