Borges‘ Aleph

Gestern tauchte im Text die Erzählung Der Aleph von Jorge Luis Borges auf, und sie muss jetzt präsentiert werden. Es ist die berühmteste Geschichte des Argentiniers, dessen Grab in Genf ich einmal aufgesucht hatte. Geben wir uns also dem Aleph hin.

Beatriz Elena Viterbo starb in Buenos Aires im Jahr 1929. Jedes Jahr am 30. April, ihrem Geburtstag, geht der Erzähler, der sie unermüdlich verehrt hat und sich Borges nennt, in das Haus, in dem sie gelebt hat. Dort sind noch Beatriz‘ Vater und ihr Bruder Carlos Argentino Daneri, der Borges seine Dichtungen nahebringt, und beide kommen sich näher. An einem Tag im Oktober 1941 ruft Argentino Daneri plötzlich an.

Das Haus solle abgerissen werden, und vorher möge sich Borges noch den Aleph anschauen, der er zufällig entdeckt habe. Da sehe man alles, buchstäblich alles. Borges fährt hin und soll eine enge Treppe in den Keller hinabsteigen, sich auf die Erde legen und auf die 19. Treppenstufe von unten schauen. Es ist völlig finster.

Auf der Rückwand der Stufe, etwas gegen rechts, sah ich eine kleine regenbogenfarbige Sphäre, deren Brillianz kaum zu ertragen war. Zuerst meinte ich, sie würde sich drehen; dann erkannte ich, dass dieser Eindruck eine Illusion war und von der schwindelerregenden Welt herrührte, die sie enthielt. Der Durchmesser des Alephs betrug womöglich nicht mehr als drei Zentimeter, aber der ganze Raum war darinnen, real und unverringert. Jedes Ding (zum Beispiel die Vorderseite eines Spiegels) war unendlich viele Dinge, wie ich sie deutlich von jedem Winkel des Universums aus sah. Ich sah das schäumende Meer; ich sah den Tagesanbruch und die Dämmerung; ich sah die Vielzahl der Gesichter Amerikas; ich sah eine silberne Spinnwebe in einer schwarzen Pyramide; ich sah ein zersplittertes Labyrinth (es war in London); ich sah eine nicht enden wollende Reihe von Augen, die sich in mir wie in einem Spiegel betrachteten; ich sah alle Spiegel auf der Erde, und keiner reflektierte mich …     

.. und sah den Aleph von allen Punkten aus, sah im Aleph die Erde und in der Erde wiederum den Aleph und im Aleph die Erde …

Der Erzähler sieht alles und alles gleichzeitig, jedoch auch Bilder aus seiner Vergangenheit mit zusätzlichen Dimensionen, den Zauber der Liebe und die Veränderung durch den Tod, und in diesem Moment war er anscheinend ohne Körper, wie eine allwissende Schicht um den Erdball.

Wir stünden dem ratlos gegenüber und hielten es für Science-Fiction-Literatur, lägen uns nicht Berichte von Zeugen einer Nahtoderfahrung (oder einer echten Todeserfahrung vor), die in diese Richtung zielen. Ihr Bewusstsein war befreit, und manche flogen durchs All und erlebten das Nichts und die Zeit vor der Entstehung der Welt (wie Mellen-Thomas Benedict) oder sahen alles, was je auf Erden geschehen ist und geschieht, ich erinnere mich noch an diese verrückt klingende Aussage einer Frau, und vielleicht ist es so, dass wir durch die Augen Gottes schauen (so hat es Mellen-Thomas Benedict 1983 geschildert) und alle zusammenwirken sollen. So hat er das gesagt:

Ich war in der Leere, und ich war mir all dessen bewusst, was je erschaffen worden war. Es war, als ob ich durch die Augen Gottes sähe. Ich war Gott geworden. Plötzlich war ich nicht mehr ich. Das Einzige, was ich sagen kann, ist, ich sah durch Gottes Augen. Und plötzlich wusste ich, warum jedes Atom existierte, und ich konnte a l l e s sehen. Das Interessante an meinem Aufenthalt in der Leere war, dass ich mit dem Wissen herauskam, dass Gott dort nicht ist. Gott ist hier. Darum geht es. Diese nie endende Suche der menschlichen Rasse nach Gott … Gott gab uns a l l e s , a l l e s ist hier – darum geht es. Und unsere Funktion bis jetzt ist, Gott bei seiner Selbsterforschung zu helfen. Die Leute bemühen sich so angestrengt, Gott zu werden, dass sie erkennen sollten, dass wir schon Gott sind, und Gott wird, was wir sind. Das ist der eigentliche Sinn der Sache.

 

 

 

 

 

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