Einfach leben

Das Leben ist ein schillernder Begriff. Vielleicht ist es, betrachtet als ein Am-Leben-Sein, auch nur ein Versprechen, ein Appell und eine Potenz — wie Geld und die Sprache. Kürzlich wurde ich darauf gestoßen und dachte darüber nach.

DSCN2741Eine Kollegin sprach mich auf meine Reisepläne für nächstes Jahr mit dem Fahrrad an und meinte: »Hast du da nicht Angst? Hat da nicht jemand Angst um dich?« Sie erwähnte, wenn ihre Tochter einmal große Reisen vorhätte, würde sie schreckliche Angst ausstehen. Ich antwortete, das sei normal, aber nicht ganz zu vermeiden. Natürlich sei Reisen immer aufregend, aber wenn man nach 100 Kilometern mit dem Rad ankomme in einem Hotel, sei man glücklich; man habe es wieder einmal geschafft. Ich provozierte sie: »Stell dir vor, du könntest fünfzig Jahre total sicher leben, ohne Gefahr — wäre das schön, wäre das noch Leben?«

Später am Tag las ich bei Saint-Éxupéry, im Nachtflug, ein Zitat von Rivière, der seine Piloten hinaus in die Welt zu schicken gezwungen ist. Es war André Gide, Romancier und Literatur-Nobelpreisträger 1948, der in seinem Vorwort darauf hinwies:

»Wir handeln, dachte Rivière, als ob irgendetwas an Wert das menschliche Leben überstiege. Aber was?«

DSCN3411Darauf könnte man erwidern: vielleicht auch wieder das Leben, allerdings anders definiert. Das Leben, richtig gelebt, übersteigt das menschliche Leben als bloße Existenz, als Sosein, als Anwesenheit. Es gibt das erwähnte Am-Leben-Sein, das mühevolle Überleben und das geruhsame Dahinleben — und es gibt das mutige Leben im Abenteuer und das emotional reichhaltige Leben in Beziehungen mit anderen Menschen. Das Leben als Substantiv ist da und pulsiert ahnungsvoll; als Verbum bedeutet leben handeln und in einer gewissen Spannung leben.

DSCN5014Angekommen sind wir nie; es gibt immer Herausforderungen zu bestehen. Kaum meinen wir uns im sicheren Hafen zu befinden, treibt uns ein plötzlich aufkommender Sturm wieder hinaus auf die offene See. Manchmal gefährden wir unsere Seelenruhe selber, manchmal wird uns die Krise zugetragen. Erst der Buddhist oder der Mystiker (ob Sufi, Kabbalist oder Christ) ist darüber hinaus, wenn er sein Ich abgestreift hat und in gehöriger Entfernung zu allen Ereignissen lebt. Doch auch er kennt ein Sehnen: zu Gott zu kommen. Ohne einen Ansporn, ohne eine Herausforderung lebt man stumpf wie ein Tier.

Sicherheit wird heute großgeschrieben. Bei all den Warnungen möchte man sich bisweilen umdrehen und gar nichts mehr tun. Die westliche Gesellschaft, gesättigt und ohne innere Werte, führt ein Rückzugsgefecht. Sie hat Angst vor möglichen Unglücken und Katastrophen (und vor dem Tod sowieso) und tut alles, um ihnen vorzubeugen; kleine Gefährdungen werden dann zu großen, weil man sie endlos durchdiskutiert. Auch in Filmen und Büchern werden Probleme sich ganz groß ausgemalt, weil ein Film eine starke Handlung braucht und Leben ohne kleine Dramen eine öde Kiste wäre. Man will heute wieder das »Glück im stillen Winkel« wie zur Biedermeierzeit, aber Langweile und Überdruß sind mit Händen zu greifen.

 

 

 

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