Die Kuckucksuhr
Für den Heiligen Abend und die Christnacht muss es eine Geschichte sein. In einem Sammelband fand ich eine kurze von André Maurois (1885-1967), die mir schon vergangenes Jahr aufgefallen war. Sie hat zwar ihre Schwächen, doch das wird verziehen, weil es um Verstorbene geht und um eine gute Botschaft. — Dies ist der 2800. Beitrag in der manipogo-Geschichte. Ein schönes Fest allen!
Vielleicht schenken wir an diesem Heiligen Abend auch einen Gedanken denen, die im ablaufenden Jahr einen lieben Menshcn verloren haben — den Partner oder ein Kind. Sie sollen getröstet werden.
Die Geschichte spielt an Weihnachten im Jahr 1965, und unser Titel ist ihre Überschrift. Der Erzähler wird von General Bramble und seiner Frau für das Fest aufs Land eingeladen. Er erinnert sich, dass der General und seine Frau zuvor ihre 18-jährige Tochter verloren hatten. Weiter eingeladen: Brambles Schwager Lord Tullock und dessen Frau.
Frau Bramble wirkt sehr traurig und weist dem Erzähler ein Zimmer an, dasjenige neben dem der verstorbenen Tochter. Am Weihnachtsabend raucht der General seine Pfeife, während Lord Tullock erwähnt, dass in der Heiligen Nacht die Toten sich meldeten. Von seiner Frau gedrängt, erzählt er etwas:
Er sei exakt vor 5 Jahren, am Heiligen Abend wieder, im Mondlicht hinausgegangen und habe nach einer kleinen Wanderung an einer Hecke erst eine Blutspur, dann eine Leiche entdeckt. Er lief zurück, holte Bedienstete, und dann gingen sie dorthin. Doch plötzlich sah die Hecke anders aus, hatte keine Einbuchtungen mehr, und die Leiche war nicht mehr aufzufinden. Der Lord meinte nun, einer Sinnestäuschung zum Opfer gefallen zu sein. Erst viele Jahre später wird ihm hinterbracht, dass genau 100 Jahre davor, am 24. Dezember 1860, am fraglichen Platz der katholische Adelige Sir John Lacy von Strauchdieben ermordet worden war.
»Glauben Sie, dass er Tote am hundertsten Jahrestag seiner Ermordung wieder auf diese Erde zurückgekehrt war?« warf ich ein.
»Glauben Sie es denn nicht?« erwiderte Lord Tullock gekränkt.
Diese Episode soll wohl zur Hauptsache hinführen. Nein, ich glaube auch nicht, dass der Tote zurückgekehrt war. Denn wenn die Verstorbenen das tun, kommen sie als »Lebende« und geben sich zu erkennen; sie präsentieren sich nicht als Leiche. Das Geschilderte klingt eher so, als sei in jener Nacht eine Tür zur Vergangenheit aufgetan worden, und Lord Tullock sah die Szenerie, wie sie 100 Jahre zuvor sich darbot. — Der Erzähler zieht sich zurück. Das Tannenholzfeuer in seinem Zimmer verlischt allmählich.
Ich konnte nicht einschlafen. Plötzlich schlug im Neberaum eine Kuckucksuhr zwölf. Ich hörte den Kuckuck bis zum Morgengrauen alle Stunden melden, bis ich endlich einschlief.
Am nächsten Morgen erzählt er dies seinen Gastgebern. Mrs Bramble hat plötzlich Tränen in den Augen.
»Ich schulde Ihnen eine Erklärung«, sagte sie. »In dem Zimmer neben dem Ihrigen gibt es tatsächlich eine Kuckucksuhr. Meine Tochter, die sie als Kind geschenkt bekam, hat sie auch später sehr geliebt und selbst jeden Abend das Uhrwerk aufgezogen. Seit dem Tode unseres Lieblings hat niemand mehr die Kuckucksuhr angerührt und niemand wird das mehr tun, so dass wir glaubten, sie wäre nun für immer stumm. Aber gestern abend, verstehen Sie, lieber Freund, gestern abend war die Weihnachtsnacht … «