Abstieg zur Erde
In dem Theaterstück Amphitryon von Molière gleitet Merkur, auf einer Wolke sitzend, heran und bittet die Nacht (mit Pferdegespann unterwegs), doch ihre kommende Ausgabe zu verlängern, da Obergott Jupiter, als dessen Bote Merkur fungiert, mehr Zeit mit der schönen irdischen Alkmene verbringen möchte. Jupiter tut das in der Gestalt ihres Mannes Amphitryon.
Für die Römer war Jupiter der oberste Gott, und bei den alten Griechen hieß er Zeus. Auch Zeus vergnügte sich gern mit schönen Erdenfrauen, und einmal spielte er Stier und entführte die Europa, eine schöne Prinzessin und Tochter des Agenor, der über das Gebiet des heutigen Libanon herrschte. Europa kam sogar gerne mit und wurde am Strand abgesetzt, worauf ein schöner Jüngling erschien, der Herrscher Kretas. Das ist natürlich wiederum Zeus. Die beiden lieben sich, drei Kinder werden gezeugt und geboren, und dann kehrt Zeus wieder zu seiner eifersüchtigen Frau Hera zurück.
Zeus und Jupiter nehmen gern die Gestalt von Menschen an, weil sie ein menschliches Sehnen nach Liebe verspüren. Der ganze griechische Götterhimmel ist gestaltet wie ein griechisches Dorf: Da gibt es Eifersucht und Neid, Wut und Rachedurst. Götter zeugen mit menschlichen Frauen Halbgötter und pflanzen sich sodurch fort. Die göttliche Welt war, wie sie der Mensch beschrieb, immer nah und ähnlich der eigenen.
In Bertolt Brechts frühem Lehrstück Der gute Mensch von Sezuan (war bei uns Schullektüre) stehen auf einmal drei Götter in einer kleinen chinesischen Stadt. Sie suchen einen guten Menschen, der Shen Te ist, die Tabakverkäuferin. Sie wird jedoch bei Brecht so lange ausgenützt, bis sie es nicht mehr aushält und sich als ihr Cousin Shui Ta verkleidet, der die Menschen, die Shen Te aussaugen wollen, mit Härte auf Distanz hält. Wie Merkur bei Molière auf einer Wolke herangleitet, so steigen die Götter mit einer Wolke hoch und singen zum Abschluss:
Und lasset, da die Suche nun vorbei
Uns fahren schnell hinan!
Gepriesen sei, gepriesen sei
Der gute Mensch von Sezuan!
Um den guten (oder nicht so guten) Menschen geht es uns jetzt nicht, sondern darum, dass Götter auf die Erde kommen und wieder entschwinden. So will es der Mensch; das wünscht er sich. Wir möchten nicht allein sein, wir hoffen auf Beistand und Zeugenschaft von höherer Stelle. Eine weise Instanz soll eingreifen und die Lage bessern, wenigstens soll sie Anteil nehmen. Von Jesus Christus ist nicht viel bekannt. Das Christentum stellte ihn, der nie deutlich sagte, dass er Gottes Sohn sei, auf ein Podest und machte ihn zu Gott, der auf die Erde herabsteigt, leidet und wieder emporgenommen wird. Ein tiefer Wunsch nahm Gestalt an in Form des Mythos oder, wie es in der Bibel heißt: Das Wort ist Fleisch geworden. Und wir im Westen geben uns nicht mit weniger zufrieden als mit einer Inkarnation. Im Orient und in Asien geht es da eher um Erscheinung.
Im Alten Testament war Gott ein Sturm, eine Stimme oder ein verzehrendes Feuer. Im Mittelalter in Europa beherrschte Er als Angst die Herzen, und Klerus und Herrscher gaben ihren Willen als den Seinen aus; so lebte in allen der Antichrist. Max Weber hat in seinem Buch Erlösermythen in Kunst und Politik dargelegt, wie der Gedanke an herabgestiegene Götter von machthungrigen Kreisen benutzt wurde. Sie spielten Herrscher der Neuzeit (Ludwig XIV., Adolf Hitler) zu sakralen Figuren hoch, wie es in Ägypten und Persien die Gottkönige gewesen waren. Viele Verblendete gaben sich diesem Missverständnis, diesem Götzendienst hin, und es reichte, ganze Länder zu verwüsten und Millionen Menschen zu töten.