Hans-guck-in-die-Luft
Da kam mir mal wieder eine Frau entgegen, die Nase in ihr Smartphone steckend, und ich ließ meinen Gedanken freien Lauf, worauf sie mich zum Hans-guck-in-die Luft führten — und damit auch in die Kulturgeschichte. Heinrich Hoffmann (1809-1894) hat den Comic verfertigt, und wir Kinder bekamen ihn vorgelesen, 100 Jahre nach seinem Erscheinen!
Das ist echte Nachhaltigkeit: Noch nach 100 Jahren florierten Hoffmanns Geschichten. Ich hatte ihn übrigens zunächst mit Wilhelm Busch (1832-1908) verwechselt, der Max und Moritz schrieb und Die fromme Helene. Dabei stand der Name Heinr. Hoffmann auf meinem Kinderbuch! So blind kann man sein. Zum Glück hat Frau Krüger aufgepasst, danke sehr!
Hoffmann war von 1851 bis zu seiner Pensionierung 1888 (spät!) Leiter der Frankfurter Anstalt für Irre und Epileptiker. Ihm ist ein Museum in Frankfurt gewidmet, das ich mit meiner Mutter einmal besucht habe. Der Hans-guck-in-die Luft ist seine Geschichte, aber beiden Autoren ist gemeinsam, dass sie gut reimten und nicht zimperlich waren.
Der Hansi hat nie auf den Weg vor sich geschaut, bis er natürlich fehltrat und ins Wasser fiel. Man fischt ihn heraus, und die Fischlein lachten …
Lachten fort noch lange Zeit.
Und die Mappe schwamm schon weit.
Als ich das Bild wiedersah, fiel mir ein, dass mich diese sich entfernende Mappe damals faszinierte … Kinder haben ja einen besonderen, meditativen Blick, und der meine richtete sich auf diese Mappe, die scheinbar ins Unendliche davondriftete.
Vor fünf Jahren hatte ich immer noch am Manuskript zu Fomo (The Fear of Missing Out) zu arbeiten, das dann im Sommer 2018 zu einem Buch wurde. Verleger Peter Michel hatte mir das Thema vorgeschlagen, ich zierte mich, ließ mich dann überreden und hängte mich rein, wobei ich bald die eigenen Versäumnisse meines Lebens behandelte. Da strich mir der Verleger (zu Recht) ein Drittel des Texts, ich fing wieder neu an und brachte das Ding zu Ende. Heute, 5 Jahre später, ist das Buch eigentlich ein Anachronismus (ein veraltetes Werk), wenn auch immer noch lieferbar und gut lesbar (ist ja von mir!).
Es geht jedenfalls heute nicht mehr um die Furcht, etwas zu verpassen, wenn Leute auf ihr Smartphone starren; nein, diese Tätigkeit hat die ganze Menschheit erfasst und ist die beliebteste Art des die Zeit Totschlagens. Der Tod droht allerdings den Lesern selber auch: Schon vor 5 Jahren war Unaufmerksamkeit die Ursache der meisten Unfälle. Bus- und Tranfahrer in Städten erzählen von Passanten, die nicht mehr links und rechts schauen, völlig ins Display vertieft.
Die Menschen, die schon vorher nicht besonders körperbewusst waren, verlassen geistig ihren Körper und verlieren sich nun vollends in den Weiten des Internets, und man könnte Wilhelm Busch abwandeln:
Auf das Display starrte er,
Denn die Cloud, die gab was her.
Sie sind nicht mehr dort, wo ihr Körper ist; ihr Bewusstsein heftet sich an Comics, an sprechende Köpfe, an witzige Spots, an Twitter-Botschaften, und das gibt Unterhaltung und Kurzweil her und ist eine Stunde später schon wieder vergessen. Keine Geduld mehr für längere Texte; kein echtes Alleinsein mehr und kein Sich-Verlieren in der Natur. Sie sehen, dass der Bus in 20 Minuten kommt, raus mit dem Gerät und was machen. Etwas dagegen machen kann man nicht mehr.
Und immer noch besitze ich kein Smartphone. Ich werde gemahnt, ich könne völlig den Anschluss verlieren, aber das ist mir egal. Es ging früher auch ohne. Ich will in Ruhe gelassen werden und keine What’s-app-Nachricht bekommen, weil ich dann genötigt bin zu antworten. Frei will ich sein. Wenn ich 20 Minuten auf einen Bus warten muss, hänge ich meinen Gedanken nach oder drifte meditativ ab wie der buddhistische Mönch bei der Betrachtung eines Blattes (oder wie die Mappe, die endlich ihre Freiheit genießt). Wer kaum mehr Bedürfnisse hat, kann auch nichts verpassen, und was im Internet steckt, ist zu 95 Prozent Müll. Meine Meinung.