Rückkehr ins Leben (11): Pierre
»Davongekommen« hat mir als Serie nie besonders gefallen, später erst wurde sie zu Rückkehr ins Leben. Das Davonkommen ist die weltliche Version einer Todeserfahrung. Man ist am Leben geblieben und hat praktisch den Auftrag, neu durchzustarten. Irvin D. Yalom hat in seinem Buch Die Reise mit Paula (Momma and the Meaning of Life, 1999) Grundsätzliches dazu gesagt, aus dem Blickwinkel des Therapeuten.
Yalom wird im Juni 92 Jahre alt und ist also wirklich ein alter Hase im Therapiegeschäft. Ich muss demnächst noch einmal von ihm sprechen. Er hat 1973 die ersten Gesprächsgruppen mit Todkranken geleitet, was es noch nicht gab, und 1981 wies sein Kollege David Spiegel nach, dass die krebskranken Mitglieder von Selbsthilfegruppen tatsächlich im Schnitt länger leben als andere Patienten.
Irvin D. Yalom thematisiert in seiner Arbeit oft den Tod, am intensivsten in seinen Sitzungen mit der 45-jährigen Chirurgin Irene, die der Tod ihres gleichaltrigen Mannes aus der Bahn warf. Erst als sie — nach vier anstrengenden Therapie-Jahren — ihre Sterblichkeit und die ihres Therapeuten zur Kenntnis nahm, bekam sie wieder Lebensfreude und Kontakt zur Welt. Ihr Therapeut ist natürlich Psychologe und demnach anti-spirituell, doch er besitzt Selbstironie und Lebensweisheit und erinnert uns:
Oder man denke an Tolstois Pierre, eine verlorene Seele, die ziellos durch die ersten drei Viertel des Romans Krieg und Frieden stolpert, bis er von Soldaten Napoleons gefangen genommen wird und zusieht, wie fünf Männer in der Reihe vor ihm von einem Exekutionsakommando hingerichtet werden und er selbst erst in letzter Minute begnadigt wird.
Dieser Beinahe-Tod verwandelt Pierre, der von da an zielbewusst, voller Lebensfreudeund mit einem hellwachen Gefühl für die Kostbarkeit des Lebens durch das letzte Viertel des Romans marschiert.(…)
Es zeigt sich alsodass die Konfrontation mit dem Tod Menschen weise machen und zu einer neuen Tiefe des Seins führen kann. Ich habe viele Gruppen mit sterbenden Patienten geleitet, die studentische Beobachter begrüßten, weil sie das Gefühl hatten, sie könnten jungen Leuten so viel über das Leben beibringen.(…)
Aber was ist mit alltäglichen, körperlich gesunden Patienten in der Psychotherapie — Männern und Frauen, die nicht an einer unheilbaren Krankheit leiden und auch nicht erwarten müssen, vor einem Exekutionskommando zu landen? Wie können wir Klinikärzte sie der Wahrheit ihrer existentiellen Situation aussetzen? Ich versuche mir bestimmte Ausnahmesituationen zu Nutze zu machen, die man oft mit dem Begriff »Grenzerfahrungen« belegt und die ein FEnster zu tieferen Ebenen der Existenz aufstoßen. Dem eigenen Tod ins Angesicht zu sehen ist wohl die stärkste Grenzerfahrung, doch es gibt vieel andere — schwere Krankheiten oder Verletzungen, Scheidung, berufliche Fehlschläge, Meilensteine des Lebens (Pensionierung, die Kinder gehen aus dem Haus, Midlife-Crisis) und natürlich die zwingende Erfahrung des Todes eines anderen, für das eigene Leben wichtigen Menschen.