Paula, die Wunderbare
Die Reise mit Paula (Momma And the Meaning of Life) folgte in Irvin D. Yaloms Werk 1999 auf das Buch Die rote Couch, das einen wunderbaren englischen Titel trug: Lying On the Couch. Das kann Auf der Couch lügen und auch Auf der Couch liegen bedeuten, und ich hätte es genannt: Liegen und lügen auf der Couch. 1992 war Und Nietzsche weinte ein großer Erfolg.
Um die Jahrtausendwende war der Autor fast 60 Jahre alt und gibt sich abgeklärt, selbstironisch und gelassen. Gerade seine in Ich-Form geschriebenen Beiträge sind faszinierend. Die 50-seitige Erzählung Die Reise mit Paula ist eine von 6 Geschichten des Bandes. Es fällt mir kein anderer Autor ein, der die Psychotherapie so erzählerisch und unterhaltsam gestaltet und geschickt zwischen Fakten und Fiktion pendelt; ich denke, Yalom hat da ein neues Genre entwickelt. Carl Gustav Jung (im Bild rechts) und Sigmund Freud waren allerdings auch gute Stilisten, Milton Erikson ebenso. Das waren eben Therapeuten, die im Bann des Wortes lebten und sich dessen Bedeutung für ihre Arbeit bewusst waren.
Irvin D. Yalom blickt also zurück auf den Anfang der 1970-er Jahre, als er 40 Jahre alt war und eine Therapiegruppe mit unheilbar kranken Patienten gründen wollte. Da trat Paula in sein Leben und wurde ihm zur Montorin getreu der Maxime, Lehrer könnten von ihren Schülern, Ärzte von ihren Patienten lernen. Er schrieb:
Leben, Tod, Spiritualität, Frieden, Transzendenz — das waren die Themen, über die wir diskutierten; dies waren die einzigen Fragen, die Paula am Herzen lagen. Meist sprachen wir über den Tod. Jede Woche trafen wir vier uns und nicht wir zwei in meinem Sprechzimmer — Paula und ich, ihr Tod und der meine. Sie wurde meine Kurtisane des Todes. Sie machte mich mit ihm bekannt, brachte mir bei, wie ich ihn sehen sollte, ja sogar mich mit ihm anzufreunden.
Die Lebenden weichen den Sterbenden aus, sogar die Ärzte ziehen sich zurück: sie, die, wie Paula meinte, man dann am nötigsten habe, wenn sie meinen, nichts mehr ausrichten zu können. Paula hatte nach ihrem Brustkrebs keine Brüste mehr, und der Krebs hatte schon Metastasen gebildet, als ihr ein Priester sagte, der Krebs sei ihr »Kreuz«, das Leiden ihr »geistliches Amt«. Paula blühte auf und hatte eine »goldene Zeit« vor sich: Sie würde sich für andere Krebskranke einsetzen! Das war ein Lebenssinn.
Da kam ihr Yaloms Plan gerade recht. Schwierig war das 1973, denn:
Das Sterben unterlag einer genauso strengen Zensur wie Pornografie.
Die Gruppe entstand und bestand zunächst nur aus vier Personen: Rob, Sal, Paula und »Irv«, wie sie ihren Therapeuten nannten, der mit dem Fahrrad zu den Treffen kam. Bald stießen andere hinzu, Studenten verfolgten die Sitzungen, und Paula wuchs über sich selbst hinaus. Irv versuchte, ihr gerecht zu werden:
Vielleicht lässt sich Paulas Rolle am besten mit dem Begriff »geistliche Beraterin« umschreiben. Sie erhöhte und vertiefte die Gruppe. Wann immer sie sprach, hörte ich aufmerksam zu: Paula hatte immer unerwartete Einsichten. Sie brachte Mitgliedern bei, wie man meditiert, wie man tief in sich hineinhorcht, wie man einen Mittelpunkt der Ruhe findet, wie man Schmerz beherrscht. (…)
Manchmal fragte ich mich, ob Paula überhaupt irgendwelche Bedürfnisse hatte, die über das Bedürfnis, anderen zu helfen, hinausgingen. (…) Sie war energiegeladen, wurde allgemein geliebt, hatte Liebe für andere und war eine Inspiration für jeden, der gezwungen war, mit Krebs zu leben. Konnte man mehr verlangen?
Diese Phase nannte Yalom »die goldene Periode meiner Reise mit Paula«. Dann kam es zu einem »Verfall unserer Liebe«, ergänzte er. Sie habe ihn mit Liebe erfüllt, und er sei ihr Fels gewesen wie ihre Zuflucht. Dann kam das Stipendium des Krebsinstituts, Berichte waren zu schreiben, das Forschungsprogramm wurde offiziell, eine junge Psychologin stieg mit ein, und ein Workshop war zu veranstalten, der völlig überflüssig war. Dabei trat der Krebsarzt Dr. Lee auf, der wichtige Faktoren sammeln wollte im Kampf gegen den Krebs. Es ging um Fakten aus dem Leben der Patienten, und Paula rief aus: »Was ist mit Mut? Und spiritueller Tiefe?«
Dr. Lee warf gemächlich seine Kreide ein paar Male in die Luft und schrieb dann widerstrebend die Begriffe an die Tafel. Er fand sie unerheblich, das sah man. Ärzte sind so. Er nannte Paula später »Predigerin«. Und Paula war wütend und enttäuscht über Yalom. Sie kehrte der Gruppe den Rücken. Für immer.
Irv machte Karriere und verlor Paula aus den Augen. Zehn Jahre später ließ sie ihn grüßen. Sie war mit einer Gruppe von Lupus-Kranken beschäftigt und gab ihr alles. Paula, die allen Statistiken zum Trotz immer noch lebte, lud Irvin zum Essen ein, war gekleidet in Leinen mit einem Strandhut auf dem Kopf, und sie dachten gemeinsam derer aus ihrer damaligen Gruppe, die gestorben waren; und sie hielten einander und wiegten sich hin und her. Nach diesem Abend machte Yalom weiter Karriere, bis zwei Jahre danach ein Brief von Paulas Sohn kam:
Meine Mutter ist gestorben, und sie hätte sicher gewollt, dass ich es Ihnen mitteile.