Orakel: Das O von Klee
Nun wieder Orelli und Klee und Lugano. — In meinem Geburtstags-Beitrag über Whitney Houston kam der erste manipogo-Artikel überhaupt zur Sprache, Das Orakel. Ja, er kam zur Sprache, und mir ihr hat es zu tun. Orakel ist griechisch und bedeutet »Sprechstätte«. Berühmt geworden ist das Orakel von Delphi, das eine rätselhafte Aussage tat, die man ergünden musste. Beginnen wir also eine Orakel-Serie und fangen wit Walaceks Traum an und dem O von Klee.
Rechts sehen wir die obere Hälfte des Werks von Paul Klee. Giovanni Orelli schreibt munter dahin, fügt eine Assoziation an die andere, und immer wieder lässt er die Frage stellen: Was bedeutet das O von Klee? Jeder sagt etwas Anderes; jedem fällt etwas dazu ein, und mir fiel dazu ein: Moderne Kunst ist ein Orakel. Die Künstler schaffen etwas und wissen selber nicht genau, was sie sagen wollen. Wir müssen ihr Werk auslegen, und eine »richtige« Lesart gibt es nicht. Das ist doch schon ein Ergebnis, das mir, wie so oft, auf Giovannas wunderschöner Terrasse einfiel.
1915, als Picasso und Braque in Paris die abstrakte Kunst aus der Taufe gehoben hatten, schrieb Paul Klee in seinem Tagebuch:
Je mehr die Welt sich furchtbar gestaltet (zum Beispiel heute), desto mehr wird die Kunst abstrakt, eine glückliche Welt hätte eine greifbare Kunst.
Theodor W. Adorno schrieb einmal, die Kunst sei heute abstrakt, weil die Beziehungen der Menschen untereinander abstrakt geworden seien. Klar, der »röhrende Hirsch« oder die einsame Kate in der Heide sind — zumindest auf den ersten Blick — keine Orakel.
Das O von Klee schneidet etwas von Walaceks Namen ab, vielleicht war das Absicht. Oder nicht? Das O von Klee ist nicht der perfekte Kreis von Giotto, wie mit dem Zirkel gedreht; ist es der Umkreis eines Brunnens ohne Inhalt, ist es das Auge einer Katze, die sich erinnert, ein Tiger gewesen zu sein? Ist es das aleph O von Cantor, dem Mathematiker, oder das Oval der Schöpfung, oder Alles? Das O ist der 13. Buchstabe des Alphabets, also: Ovid, Orazio (Horaz), Omero (Homer), Orelli! Oder gehört es einfach zu dem (leicht erkennbaren) Wort Hop — Hop Schwyz?
Ich will auch etwas dazu beitragen: Im hebräischen Alphabet entspricht das O am ehesten dem 9. Buchstaben, dem Teth, das an die Schlange erinnert, den Ouroboros, der seinen Schwanz ins Maul nimmt: Ausdruck des Zirkels, der ewigen Wiederkehr, des ewigen Lebens. Verwandt mit dem Teth ist Samech, Nummer 15. Dieser Buchstabe steht ebenfalls für die Schlange, aber auch für Luzifer, den Lichtbringer, der wiederum die Sexualenergie verkörpert. (Wie das Arabische kennt das Hebräische ja keine Vokale; diese werden meist durch Punkte oder Striche über oder unter den Konsonanten angezeigt.) Wenn das Aleph rotiert, entsteht Samech, das immer an die Frau erinnert, ohne die keine Schöpfung möglich wäre. Auch die Kabbalisten spielen sich die Bälle zu, springen von einem Gedanken zum nächsten, aber wichtig ist nur, dass uns etwas einfällt. Es mag etwas bedeuten oder nichts — Hauptsache, es funkt oder funkelt, Energie wird frei und etwas Neues bildet sich, hervorgegangen aus der Dunkelheit.
Und irgendwie erinnert das O von Klee auch an den letzten griechischen Buchstaben, das Omega (Ω). Das Alpha und das Omega, das A und O … Vielleicht deshalb griff der originelle britische Psychoanalytiker Wilfried R. Bion (1897-1970) hinaus ins Weite. Ich habe leider nicht genau notiert, in welchem Sinn er das ominöse O benützt; bei ihm geht es jedenfalls darum, den sprachlichen Code gestörter Seelen aufzuheben, indem man diese auf einer anderen Ebene versteht. In seinem Buch Transformationen (1965; deutsch 1997) schrieb er:
O ist »letzte Realität« und »Wahrheit«
Du kannst nur: es sein
Alle Repräsentationen sind Transformationen, oft von Transformationen
O — die unerkennbare letzte Realität.