Orakel (3): I Ging
Eines der ältesten und einflussreichsten Bücher der Menschheit ist das chinesische Buch der Wandlungen oder I Ging (manchmal auch i-ching). Es lag womöglich schon 1500 vor Chistus vor und war ein Orakelbuch. Mit Hilfe von Tierknochen, Schildkrötenschalen und Schafgarbenstengeln bildete man Konstellationen, aus denen die Zukunft zu entnehmen war. Der Stuttgarter Sinologe Richard Wilhelm (1873-1930) übersetzte es vor 100 Jahren.
Wilhelm betonte, dass Weissagungen unabhängig seien vom Tun und Lassen der Menschen.
Darum bleibt die Wahrsagung ohne moralische Bedeutung. Indem sich in China zum ersten Male jemand fand, der sich mit den die Zukunft verkündenden Zeichen nicht zufrieden gab, sondern fragte: Was soll ich tun? geschah es, dass aus dem Wahrsagebuch ein Weisheitsbuch werden musste.
Das I Ging skizziert Situationen und mögliche Entwicklungswege, und es warnt vor Beschämung oder stellt auch Heil oder Gelingen in Aussicht. Das Material sind zunächst acht Bilder, die Abbildungen von Bewegungstendenzen sind:
Kiën, das Schöpferische
Kun, das Empfangende
Dschen, das Erregende
Kan, das Abgründige
Gen, das Stillehalten
Sun, das Sanfte
Li, das Haftende
Dui, das Heitere.
Jedes dieser Bilder wird durch drei übereinanderliegende Striche symbolisiert, die entweder durchgehend (——) oder durchbrochen (— —) sind. Man produziert ein Zeichen, indem man sechs Striche entstehen lässt (etwa durch das Werfen einer Münze, so mache ich das). Unten fängt man an und bekommt also zwei Dreier-Abteilungen — eine untere und eine obere Hälfte. Die Bilder werden also miteinander kombiniert, was 64 Möglichkeiten ergibt, und ein Zeichen geht ins andere über, indem ein Strich sich verändert hat.
64 Möglichkeiten: Das erinnert ans Schachbrett mit seinen 64 Feldern, also 8 Mal 8. Wenn man die Zwei immer weiter verdoppelt, kommt man auf 64. Im I Ging heißt das Zeichen 63 interessanterweise Nach der Vollendung, und Nr. 64 Vor der Vollendung. Denn bei Zeichen 1 geht es wieder neu los. Die Welt ist zyklisch organisiert.
Der Übersetzer erklärte:
Der Grundgedanke des Ganzen ist der Gedanke der Wandlung. In den Gesprächen wird einmal erzählt, wie der Meister Kung an einem Fluss stand und sprach: »So fließt alles dahin wie dieser Fluss; ohne Aufhalten, Tag und Nacht.«
Dann weist Richard Wilhelm noch auf die Ideenlehre hin. Die acht Bilder zeigen Wandlungszustände.
Damit verbindet sich die Auffassung, … dass alles, was in der Sichtbarkeit geschieht, die Auswirkung eines »Bildes«, einer Idee im Unsichtbaren ist. Insofern ist alles irdische Geschehen nur gleichsam eine Nachbildung eines übersinnlichen Geschehens, die auch, was den zeitlichen Verlauf anlangt, später als jenes übersinnliche Geschehen sich ereignet. … Das Buch der Wandlungen zeigt die Bilder des Geschehens und mit ihnen das Werden der Zustände in statu nascendi.
Das heißt: wie sie gerade geboren werden. Erwähnen sollte man noch, dass das menschliche Leben analog zum Leben der Natur gesehen wird und dass alte chinesische Werte betont werden: ein gedeihliches Miteinander; der Herrscher soll sich zurückhalten, die Minister und Mitarbeiter sollen ihn achten und für das Wohl des Volkes dasein; im Zweifel besser nichts tun; immer maßvoll sein und diplomatisch.
Ich schätze das I Ging, weil es nie grausame Urteile fällt. Ich verwende drei 2-Euro-Stücke und konsultiere das I Ging alle paar Monate. Meist spiegelt das Ergebnis sehr gut meine Situation wider. Manchmal wird meine Frage auch ignoriert, was nur bedeuten kann, dass sie irrelevant war. Kritiker sagen natürlich, dass ich mir nur einbilde, dass das Orakel meine Situation abbilde. Ich finde jedoch, dass es überzufällig oft recht hat. Wenn ein übernatürliches Moment mitspielt, müsste man sagen, dass mein Unbewusstes die Münze so wirft, dass ihr Ergebnis für mich perfekt ist — oder dass ein Engel mithilft. So einer wie der Bibliothekenengel. Könnte ja sein.