Medizin als Religion

Vor drei Jahren hat der italienische Philosoph Giorgio Agamben eine Entwicklung herausgearbeitet, die damals, ungeachtet der Pandemie, bereits zu bemerken war: Die Medizin hat sich neben Wissenschaft, Kapitalismus und Christentum als »vierte Religion« etabliert, deren Diktat die Politiker folgten. 

Die Medizin als Religion

Dass die Wissenschaft die Religion unserer Zeit geworden ist, an die die Menschen glauben zu glauben, ist seit einiger Zeit offenbar. Im modernen Okzident haben drei große Glaubenssysteme miteinander gelebt und tun es, in gewissem Maß, immer noch: das Christentum, der Kapitalismus und die Wissenschaft. In der Geschichte der Modernität haben sich diese drei »Religionen« viele Male notwendigerweise gekreuzt, sind zuweilen in Konflikt miteinander geraten, um sich danach in gewisser Weise zu versöhnen, bis sie allmählich eine Art friedliche, formelle Koexistenz erreichten und manchmal sogar eine Zusammenarbeit im Namen des Gemeinwohls.

DSCN5398Die neue Tatsache ist, dass sich zwischen der Wissenschaft und den anderen beiden Religionen ein geheimer und hartnäckiger Konflikt entzündet hat, deren für die Wissenschaft erfolgreicher Ausgang uns vor Augen steht und auf unerhörte Weise alle Aspekte unserer Existenz bestimmt. … Es kann nicht überraschen, dass Protagonistin dieses neuen Religionskrieges jener Teil der Wissenschaft ist, in dem die Dogmatik weniger streng, der pragmatische Aspekt dafür stärker ist: die Medizin, dessen direktes Objekt der lebende Körper der menschlichen Wesen ist. (…) 

Der erste Charakterzug ist, dass die Medizin wie der Kapitalismus, keine besondere Dogmatik service-pnp-fsa-8c00000-8c00700-8c00751_150pxnötig hat, sondern sich darauf beschränkt, ihre grundsätzlichen Konzepte sich aus der Biologie zu entleihen. Im Gegensatz zur Biologie indessen drückt sie diese Konzepte in einem gnostisch-manichäischen Sinn aus, also gemäß einer strengen dualistischen Opposition. Da gibt es einen Gott oder ein böses Prinzip, die Krankheit, genau, deren spezifischen Agenten Bakterien und Viren sind sowie einen Gott oder ein wohlwollendes Prinzip, das nicht die Gesundheit ist, sondern die Heilung, deren kulturellen Agenten die Ärztinnen und Ärzte mit ihrer Therapie sind. (…)  

Das ist schon einmal deutlich. Die Stellen habe ich dabei fortgelassen, bei denen Agamben von seiner Zeit beeinflusst wird: dem Lockdown während Covid und der Verärgerung über die Einschränkung unserer Freiheit. Die Erkenntnis des Philosophen aus dem März 2020 dazu:

Man könnte sagen, dass die Menschen an nichts mehr glauben — nur an die nackte biologische Existenz, die es um jeden Preis zu retten gilt. Aber mit der Angst, sein Leben zu verlieren, lässt sich nur eine Tyrannei begründen, nur ein monströser Leviathan mit seinem gezogenen Schwert. 

ξ ξ ξ

Anfang April 2020 hatte Agamben einen langen Essay des kanadischen Publizisten David Caylay veröffentlicht, der das Werk von Ivan Illich (1926-2002) gut kennt. Illich, der Kritiker mit dem Röntgenblick, war katholischer Priester und nahm schon 1975 (in seinem Buch Die Nemesis der Medizin, das ich 2014 besprochen hatte) die Entwicklungen voraus, die wir erst heute deutlich sehen. Das sich noch einmal vor Augen zu führen, lohnt sich. (Warum habe ich nie über sein Pamphlet über das Fahrrad geschrieben, in dem er Tempo 40 für die Automobile fordert, überall?)

Illich schrieb, dass die Medizin zwei Wasserscheiden überquert habe. Die erste sei vor über hundert Jahren gewesen, als durch verbesserte Heilkunst und Hygiene Epidemien gestoppt und die Menschen älter wurden. Danach habe man das Gefühl gehabt, es 664A4966_090_20_51424werde ewig so weitergehen — in eine goldene Zukunft. Dann jedoch überschritt die Medizin eine zweite Wasserscheide: Sie liegt vermutlich schon hinter uns, und das war, als die Medizin begann, des Guten zuviel und damit mehr Schlechtes als Gutes zu tun — sie sei kontraproduktiv geworden. Das sei in jedem System so: Einmal ist es perfekt, doch dann wird es zu groß und zu komplex.

Die negativen Einflüsse der Medizin nannte Ivan Illich Iatrogenese (etwa: ärztlich Verursachtes). Im klinischen Bereich heißt das: falsche Diagnose, falsche Medizin, falsche Behandlung. In den USA sterben angeblich 400.000 Menschen jedes Jahr durch Behandlungsfehler und Nebenwirkungen von Pharmazeutika, und in Deutschland werden es 25.000 sein. Auf sozialer Ebene wird der Arzt zum Appendix der Wissenschaft und behandelt den Patienten als experimentelles Subjekt und nicht als Einzelwesen. Und in der Kultur verändert die Iatrogenese Grundlegendes am Menschen: Leiden und Tod werden als Störer behandelt, und man zaubert sie weg (durch Medikamente und den Tod im Krankenhaus), wodurch man sie ihrer Bedeutung beraubt (hier spricht sich Illich, der Pfarrer, aus).

Die Medizin sei mächtig geworden. Das Gesundheitssystem verschlingt bei den meisten Staaten 40 Prozent des Budgets. 1988 sprach Illich mit Caylay über sein Buch und stellte fest, die Menschen hätten eine »neue Sicht auf die Dinge«. Wir lebten in einem »Zeitalter der Systeme« und in einer Zeit der totalen Immanenz: Es gebe nur die Welt. Und in ihr gebe es Risiken und Gefahren. 20210115_Corona_TodesfaelleDas Risiko sei ein abstrakter Begriff. Menschen leben mit Statistiken und reagieren auf mögliche Gefahren. (Darum lassen sie sich gegen Gürtelrose impfen, weil dafür eine Kampagne läuft und man es ja kriegen könnte.) Während Corona ging es nur um die Graphiken mit den Neuansteckungen und die mit den Neueinweisungen ins Krankenhaus. Man misst sich an einer Statistik. Die Körper der Menschen werden zu synthetischen Konstrukten aus CAT-Aufnahmen und Risikokurven.

Illich:

Dieses naturalisierte Leben, von seiner Quelle getrennt, ist der neue Gott. Gesundheit und Sicherheit sind seine Adjutanten. Sein Feind ist der Tod. Der Tod verhängt immer noch ein abschließendes Urteil, hat aber keine persönliche Bedeutung mehr. Es gibt keine richtige Zeit zu sterben — der Tod tritt ein, wenn die Behandlung scheitert oder beendet wird.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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