Das Zeitalter der Lüge

Da gibt es ja die Geschichte der amerikanischen Lehrerin, die Schülern ein Bild von Michelangelo zeigte (den nackten David) und dafür gekündigt wurde, weil sich Eltern empörten. (Niedergemetzelte Mordopfer zu zeigen, wäre indessen okay gewesen, nehme ich an.) Über den Correctness-Wahn müssen wir mal wieder schreiben, weil er bizarr ist und sehr gefährlich.

Cover_Girls_Report_2012_04_e522eecb35Die Bücher von Agatha Christie sollen umgeschrieben werden, vor allem die Zehn kleinen Negerlein, die ja unmöglich seien. Karl May sei ein Rassist gewesen, wird behauptet (dabei ließ er den Indianern Gerechtigkeit widerfahren, ich las ihn andauernd und wollte immer nur Indianer sein.) Bei einer Fasnachts-Veranstaltung hier im Südwesten sprach eine Rednerin über »Mohrenköpfe« — und gleich wurde es totenstill im Saal. Der Wahnsinn ist weit verbreitet. Vermutlich gibt es viele ähnliche Beispiele.

Viele erkennen die Absurdität des Sturmlaufs gegen vermeintliche Diskriminierung und fassen sich an die Stirn, die meisten aber sind verblendet und gehen in den Kampf wie Streiter gegen das Unrecht. Der Wunsch nach Gerechtigkeit und Gleichheit richtet sich auf die Sprache. Mit dem Einsatz gegen die Diskriminierung hat man sein Gewissen beruhigt, dem Nebenmenschen durch eine Rüge etwas beigebracht (Deutschland, das Land der Schulmeister) und muss nichts Konkretes tun.

Vorher schon war Sprachkosmetik, die aus der Putzfrau die Raumpflegerin machte und aus der Sekretärin die Chef-Assistentin, die die Atomhalde zum »Versorgungspark« adelte und das Irrenhaus zur psychiatrischen Klinik. So schraubte man an der Sprache herum. Man redet sich die Welt schön, anstatt sie zu verändern. So sind die schlimmen Dinge weniger schlimm. Wenn es etwas zu verbergen gibt, redet man immer um das schwarze Loch, um den heißen Brei herum.

Unverblümte Szenen kann man in einem Buch nicht mehr schreiben, ein Afrikaner (sic!) kann in einem Film nicht der Mörder sein, Sex ist tabu, Mord geht, ein korrupter Politiker geht vielleicht schon nicht mehr, denn plötzlich hören viele eine Anklage heraus. Alle an der Macht sind heute dünnhäutig und hellhörig geworden. Oder soll jeder kritische Kanal zum Schweigen gebracht werden? Will man uns von wichtigeren Themen ablenken? Jedenfalls fördert man die Schwachen mittels der Sprache, weil man keine Lust hat, sie mit höheren Löhnen oder besseren Posten zu stärken.

Kunst ist unter diesen Bedingungen nicht mehr möglich, denn Kunst gedeiht nur in der Freiheit. Die Menschen haben sich ihre Freiheit nicht erkämpft, und anscheinend hat sie für sie keinen großen Wert. Sie haben sie nicht verdient. Sie versklaven sich gern selbst, wie wir in den drei Jahren Corona sahen. Die Sprachverbote sind nicht von einer sozialistischen Regierung erlassen worden, nein! Das Volk und die Klubs der Oberschwätzer (die Medien inbegriffen) machen das alles selber, bis diese angeblich freie westliche Gesellschaft einem früheren Ostblockstaat gleicht. Da hatten sie alle die »Schere im Kopf«, denn man musste sich überlegen, was man sagen konnte. Auch hier bei uns herrscht Zensur — bei Fernsehen, Radio und in den Verlagen. Das war immer schon so, nur jetzt fällt es richtig auf.

Wenn man nicht mehr schreiben und sagen kann, was ist und was man will, sind wir unterdrückt und in der Lüge. Ein Wunschbild ersetzt die Fülle der Wirklichkeit, und so war das ja wohl in Kommunismus und Faschismus. Jetzt lernen wir, dass der Konsumkapitalismus auch seine totalitäre Seite hat — immer, wenn es um Macht geht, greift sie auf alles über und vernebelt die Hirne. Die Lüge ist eine zersetzende Kraft (es fing mit den fake news an) und kann eine Gesellschaft rasch zerfressen, denn es geht um das Verhältnis der Wörter zur Welt, und wenn wir uns darüber nicht mehr einig sind, dann gute Nacht!

Mir fällt auch auf, dass immer öfter Verben groß geschrieben werden. Das gab es noch nie. Und noch nie wurde so achtlos und schlampig geschrieben. Überall sind sie so korrekt, und niemand soll benachteiuligt oder diskriminiert werden — aber die Sprache treten sie mit Füßen. Sie Schreiben wie es ihnen Gefällt. Sie fahren große Autos und schreiben Verben groß, weil sie sich groß fühlen.

 

Giorgio Agamben schrieb das Folgende erst am 5. Dezember 2022, und das übersetze ich jetzt (fast) ganz. Schon wieder Agamben und die Lüge!

Die Wahrheit und der Name Gottes

Seit fast einem Jahrhundert reden die Philosophen über den Tod Gottes, und, wie es oft vorkommt, scheint diese Wahrheit heute stillschweigend und sozusagen unbewusst vom normalen Menschen akzeptiert zu sein, ohne dass man die Konsequenzen daraus abgeschätzt oder verstanden hätte. Eine daraus — und sicher nicht die wichtigste — ist, dass Gott — oder eher sein Name — die erste und letzte Garantie der Verbindung zwischen der Sprache und der Welt war, zwischen den Wörtern und den Dingen. Daher kommt die entscheidende Wichtigkeit, die unsere Kultur dem ontologischen Argument beilegt, das unauflösbar Gott und die Sprache verband und dem Schwur, der auf den Namen Gottes lautete, der dazu verpflichtete, auf eine Übertretung der Verschränkung zwischen unseren Wörtern und den Sachen zu antworten.

Wenn der Tod Gottes nichts Anderes bedeuten kann als ein Wegfallen dieser Verschränkung, so folgt daraus, dass in unserer Gesellschaft die Sprache handfeste Lüge geworden ist. Ohne die Garantie des Namen Gottes ist jede Äußerung wie der Schwur, der die Wahrheit beglaubigte, nicht mehr als Eitelkeit und leerer Wahn. … 

Heute erreicht eine fast zweitausendjährige Epoche der westlichen Kultur ihr Ende, die ihre Wahrheit und ihr Wissen auf die Verbindung zwischen Gott und dem logos gründete, zwischen dem heiligen Namen Gottes und den einfachen Namen der Dinge. Und es ist sicher kein Zufall, dass nur die Algorithmen und nicht die Wörter noch einen ungefähren Bezug zur Welt herstellen, und dies nur in der Form der Wahrscheinlichkeit und der Statistik, weil auch die Zahlen letzlich nur auf einen Menschen als Sprecher verweisen, was in irgendeiner Weise noch Namen miteinbezieht.   

Aber, denkt sich Agamben, eine andere Art der Wahrheit wäre möglich, —indem wir an einen kindlichen Gott glaubten wie den kleinen Jesus, den, wie uns beigebracht wurde, die Mächtigen um jeden Preis umbringen wollten. Ein etwas hilfloser Schluss ist das, aber etwas Positives wollte der Philosoph uns wohl noch mitgeben.

 

 

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