Traumfänger

In drei Stunden habe ich das Buch Traumfänger von Marlo Morgan noch einmal durchgelesen (ziemlich schnell) und mir 25 Stellen notiert, die ich verwenden wollte. Dann erkundigte ich mich bei den Wikipedias über die Autorin und musste feststellen, dass sie 1996 zugab, die Geschichte frei erfunden zu haben. Aber wie gut erfunden sie ist!

service-pnp-wtc-4a00000-4a03000-4a03100-4a03151_150pxErst war die New-Age-Gemeinde begeistert, und der Erfolg des Buches war ab 1990 nicht zu stoppen. 10 Millionen Exemplare sind von Mutant Message From Down Under bislang weltweit verkauft worden. Gerade von den Aborigines kam jedoch Kritik, und 1996, als dier Geschichte mit Meryl Streep verfilmt werden sollte, reiste eine Gruppe von Häuptlingen in die Staaten und schaffte es, den Film zu verhindern. Es gibt sogar eine Anti-Morgan-Seite, auf der gegen das Buch polemisiert wird, und das Miese daran ist, dass sie marlomorgan/wordpress heißt, als stamme sie von der Autorin selbst. Es ist billig, auf die Autorin loszuschlagen, die als Einleitung an die Leser schrieb:

016Dieses Buch basiert auf Tatsachen und ist von wahren Erfahrungen inspiriert. Wie Sie bald erkennen werden, hatte ich kein Notizbuch zur Hand. Verkauft wird dieses Buch jedoch als Roman, um den kleinen Aborigine-Stamm vor Schwierigkeiten zu schützen.

Das ist nur eine kleine, jedoch völlig legitime Irreführung. Wie viele Autoren haben behauptet, sie hätten das Manuskript ihres Romans auf einem Dachboden gefunden, es stamme von … Der Trick, eine erfundene Authentizität für einen Roman herzustellen, ist anerkannt. Freilich, wenn jemand wie die Morgan dann Vorträge darüber hält und die Fiktion als Fakt verkauft, ist eine moralische Grenze überschritten.

2021-03-27-0007Natürlich ärgere ich mich nun auch über meinen Enthusiasmus; doch wenn ich darüber nachdenke: warum mich ärgern? Die Lehrsätze und Stationen auf der langen Wanderung sind wunderbar, so sollten wir leben und denken! So oder so — ein Leitfaden alternativen Lebensstils ist es, egal ob es der Wahrheit entspricht oder nicht. Das Credo des Schriftstellers lautet: Es geht um die innere Wahrheit, in ihren Diensten darf man die äußere gern verzerren.

Die Kritiker zählen einige Unrichtigkeiten auf … erwähnen, dass es keinen unbekannten Stamm gab, der mit einer 50-jährigen Amerikanerin 4 Monate durch den Busch wandern würde; und Instrumente und Rituale stimmen nicht und dies und das. Warum gerade sie ausgewählt worden sei, als Botin von deren Anliegen zu fungieren? Natürlich, dass die Eingeborenen selber gegen das Buch kämpften, gibt einem zu denken. Sie distanzieren sich jedoch damit von den edlen Absichten, die ihnen unterstellt werden. Schade.

Die Aborigines werden im Traumfänger sympathisch und weise und sensibel dargestellt — man kann nicht erkennen, wieso etwas daran »tief rassistisch« sein soll, wie Rezensenten schimpften. Die 1937 geborene Autorin des Buchs hat also eine Traumwelt vor unseren Augen erstehen lassen, einen Gegenentwurf zur kapitalistischen Weltherrschaft. Sie zeigt ein altes Volk, das eng mit der Natur zusammenlebt und tiefe Gebräuche besitzt. Das Buch ist von einer Mission getragen und hat gewiss viel gute Gedanken und vielleicht sogar gute Taten erzeugt. Die Öffentlichkeit wartete vermutlich auf eine Offenbarung, wie man anders leben könnte. Am Ende verabschieden sich die »Wahren Menschen« von der Welt, das ist symbolisch und ein starker Effekt.

122Die Aborigines mit ihrer »Traumzeit« waren natürlich immer eine beliebte Projektionsfläche. Doch wer, wenn nicht sie, könnte uns eine schöne sanfte Gegenkultur lehren? Die Indianer Nordamerikas fallen in dieselbe Kategorie, und da haben wir die Rede des Häuptlings Seattle 1855 vor dem US-Kongress. Sie scheint authentisch zu sein. All das hat keine direkten Konsequenzen, aber da wird Kritik ausgesprochen; gut, dass es das Buch Traumfänger gibt.

Und es gibt eine interessante Parallele, finde ich. Der Robinson Crusoe, von Daniel Defoe (1660-1731) im Jahr 1719 veröffentlicht, geht auf den Aufenthalt von Alexander Selkirk auf einer Insel zurück —von 1704 bis 1709. Was aber wichtiger ist: Anscheinend ist das Buch, vor allem in zweiten Teil, eine Gesellschaftskritik. An den Abenteuern des »ersten Menschen« auf der Inel wird das damalige Treiben in London gespiegelt, das, damit verglichen, ziemlich schlecht wegkommt. Behalten wir das im Kopf. (Als Kinder bekamen wir imer nur den ersten Teil, und den auch gerafft und gekürzt.)

Mit ein paar Zitaten aus dem Traumfänger wollen wir schließen.

»Es ist das Wichtigste, was du in deinem Leben tun wirst.« (Der bevorstehende Marsch.)

Bier ist eines der Nationalheiligtümer Australiens.

Der Stamm der Wahren Menschen bricht immer ohne Nahrung auf.

Diese Menschen verständigten sich die meiste Zeit lautlos mit Hilfe einer Art Telepathie.

Die Devise lautet: keine Lüge, und deshalb haben sie auch nichts zu verbergen. Diese Menschen haben keine Angst davor, ihren Geist für Neues zu öffnen, und sie sind immer bereit, die anderen an ihrem Wissen teilhaben zu lassen. 

»Alle Menschen sind Geister, die auf dieser Welt nur zu Besuch sind. Und alle Geister sind ewige Wesen.«

»Es ist alles eins — unsere Ahnen, unsere ungeborenen Enkel und alles Leben auf der Welt.«

»Wir meinen, dass die Göttliche Einheit unsere Absichten und Gefühle erspürt — es interessiert sie nicht, was wir tun, sondern warum wir es tun.«

Doch Menschen, die von der Göttlichen Einheit wissen und verstehen, dass dem Universum nicht ein Zufall, sondern ein göttlicher Plan zugrundeliegt, kennen keine Angst.

Diese Berührung mit dem Tod ließ mich auch von meiner Überzeugung Abschied nehmen, dass Furcht und Verzweiflung von äußeren Faktoren abhängig seien.

 

Illustrationen: Das oberste Bild ist von William Henry Jackson, 1843-1942, courtesy of Library of Congress, Wash. D. C. Die anderen drei sind von Armando Basile.

 

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