Zeina in Damaskus

Wie Damaskus, die syrische Hauptstadt, heute ausssieht, wissen wir Mediennutzer nicht. Vermutlich sieht sie aus wie im Film Nezouh der syrischen Regisseurin Soudade Kaadar, der 2022 in Venedig einen Preis erhielt. Da ist Damaskus eine Geisterstadt, die von den meisten Bewohnern verlassen wurde und nur noch zerbombte Hochhäuser hat, umgeben von Schutt.

Die Programmkinos waren kürzlich im Beitrag Übers Kino lobend erwähnt worden. Wie gern habe ich sie in Berlin, St. Gallen, Rom und Freiburg besucht! Nein, sie dürfen nicht aussterben! Wir haben Nezouh im Arthouse-Kino Uto gesehen am Zürcher Bahnhof Wiedikon, und im großen Saal verloren sich zehn Besucher. In der Schweiz gibt es etwa das Kellerkino in Bern, das Kinok in St. Gallen, Cameo in Winterthur und den Uferbau in Solothurn, und Frankfurt, München und Berlin werden noch ein paar haben.

Wir brauchen Fime aus anderen Ländern, um andere Wirklichkeiten zu sehen. Diese Filme lassen sich nur mit Mühe finanzieren, wirken dann aber frisch wie wenige hiesige Produkte. Woanders, wo das Leben hart ist, geht es nur um den Ausdruck und die Freude an der Darstellung und nicht um Schockeffekte oder gedankenschwere Kammerspiele aus unserer mitteleuropäischen konsumbefrachteten und technikbeladenen überkomplexen Welt. Leider zeigt das Fernsehen weder Filme aus anderen fernen Ländern noch umstrittene, kritische Filme; wir müssen in einer Welt schmoren, die sich immerzu selbst bestätigt.

Nezouh heißt Seelenverlust, wenn ich das vom Anfang richtig in Erinnerung habe. Die 14-jährige brave Zeina lebt mit iher Mutter Hala und dem Vater Mozar in einem Haus in Damaskus, und ringsum wohnt niemand mehr. Hala drängt ihren Mann, sie sollten verschwinden, und der brüllt: »Was, Flüchtling sein! Dieses Haus haben wir uns erarbeitet, wir bleiben!« Dann fallen Bomben, und die riesigen Löcher verhängt der Hausvater mit Leintüchern, denn man dürfe seine »Mädchen« nicht sehen. In dieser zerstörten Welt hält er an seiner orientalischen Wertewelt fest — wie absurd! Er holt Wasser und bedient sich in verlassenen Wohnungen an den Kühlschränken, und bevor er geht, fragt er: »Braucht ihr noch was?« Zum Lachen. (Oben links im Bild: Amer liegt entspannt auf der Terrasse, und der Blick nach unten zeigt Zeina auf ihrem Bett. Mittels einer Strickleiter steigt sie zu ihm hoch.)

Amer, ein Nachbarsjunge, nähert sich Zeina, und gemeinsam sitzen sie auf dem leeren Dach des Hauses und genießen den Sternenhimmel. Zeina hat damit ihren Beschützer und Freund gefunden — wie ihn auch Wajda hatte, das Mädchen mit dem grünen Fahrrad. Und zu diesem Umkreis gehört natürlich auch der Film Schildkröten können fliegen des Kurden Bahman Ghobadi, und auch er hat ein junges Mädchen als Hauptfigur. Die Regisseurin Soudade Kaadar wurde übigens 1979 in Frankreich geboren, dem Land der Toleranz, in dem Afrikaner und Asiaten ihre Stimme haben.

258453_original-1Endlich flüchten Mutter und Tochter aus der weitgehend zerstörten Stadt (Bild rechts, aus dem Beitrag Russlands Krieg in Syrien) und gelangen durch einen Tunnel jenseits der belagerten Zone hinaus. Ein uniformierter Bewaffneter erwartet sie, der dann fragt: »Gehört ihr zu den unsrigen?« Wer kann das sagen, gekleidet sind alle gleich. Wer sind die anderen, die Feinde? »Wollen wir den anderen unser Land überlassen?« fragt eine Frau. Auch da ist unklar, wer was will; alles wird zerstört und niemand weiß eigentlich, weshalb. Oder doch? Ein mächtiger Mann (Assad) klammert sich an seine Macht, und die Russen und Iraner, die ihm helfen, haben ihre eigenen Pläne, in denen die Bewohner des Landes keine Rolle spielen. Fast 6 Millionen Syrer sind schon geflohen, ein Drittel aller Bewohner. Dieses Land wurde planmäßig zerstört, ohne dass dies die Großmächte groß interessierte.

Das Ende von Nezouh spielt in der Wüste und ist versöhnlich, aber freilich zwiespältig, denn da ist zwar eine Zukunft, für die die Familie jedoch nur ein paar Kleider und etwas Zuversicht hat. Zeina immerhin hat Amer.

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