Am Tiber mit Musik (2)
Das Buch ist wirklich total autobiografisch! Nein, stimmt nicht, aber zu weiten Strecken, und das wird anderen Autoren auch so gehen, man beschreibt am besten, was man kennt. Und ich war bei King Crimson im Olympiastadion in Rom, es muss im Jahr 2003 gewesen sein. 20 Jahre später gibt es die Band noch, und Gründer Robert Fripp ist das einzige übriggebliebene Mitglied.
Im März des vorigen Jahres gab Fripp, heute 77 Jahre alt, dem Guardian ein Interview. (Die Zeitung bittet um Unterstützung, vielleicht 2 Pfund im Monat, und sie weiß auch, dass ich mich aus Deutschland zuschaltete bzw. den Artkel las. Alles wissen sie!) Es war die Dokumentation In the Court of the Crimson King von Toby Amies herausgekommen, und Fripp — allgemein als Einpeitscher und ruheloses Genie, das alles von seinen Leuten verlangt, verschrieen — sagte im Interview, King Crimson sei »eine Art und Weise, die Dinge zu tun« und sei »eine Kraft in sich selbst«. 1969 gegründet, formierte Fripp sie immer wieder mal neu und machte dann ein paar Jahre Pause. In Rom bekannte ich mich zu der Band, die musikalisch eine nie gehörte Bandbreite besitzt: Aggressiver Rock wechselt mit lyrischen Songs ab, die beneidenswert melodisch klingen. So sei das Leben eben, sagte der Gründer.
Nun der Auszug:
Ein Bierchen noch unten an der Via Garibaldi, und dann auf ins Zentrum der Olympischen Spiele 1960. Der Eingang F des Tennis-Stadions, wo ich mich mit Giuseppe verabredet habe. Es ist Konzertsaison. Drei Wochen vorher habe ich da, durch den Gitterzaun spähend, Chrissie Hynde von den Pretenders gesehen, das Konzert leider verpasst, auch Deep Purple wären es nochmal wert gewesen … und vor zwei Wochen wollte ich Procol Harum miterleben, war viel zu früh dran, und die Musiker waren gerade beim Soundcheck. Da hörte ich das Kreischen der Seemöwen, das A Salty Dog einleitet, und ein Schauder lief mir über den Rücken, so schön war das. Die ersten Töne, ein paar Akkorde, dann wieder Pause. Diese Momente waren bewegender als das ganze Konzert vor ein paar hundert älteren wohlerzogenen Zuschauern auf Plastikstühlen danach. Und da steht Giuseppe und nagelt sein Rad am Zaun fest.
Ja, der Karmesinrote König wird ins Rampenlicht des Tennisstadions treten. Giuseppe hat sich und mir die Karten besorgt. Ich soll zum ersten Mal meine Lieblingsband live erleben. Wir stehen im Rund des Stadions. Die Instrumente auf der Bühne liegen im Schatten, um halb neun ist es noch leidlich hell, und die langgestreckten Ränge sind gut besetzt; der Innenraum weniger. Nur ein paar hundert Leute haben sich locker vor die Bühne geschart. Gerade macht sich auf der Bühne ein Herr mit schwarzer Kleidung an Geräten zu schaffen, lässt Lichter aufblinken und ein elektronisches Pulsieren ertönen, das weitergeht, nachdem der Herr weggetaucht ist.
»Das war er«, flüstert Giuseppe. »Fripp. Ein Genie.« Das Genie verbietet jegliche Fotos und will auch nicht, dass in dieser milden Julinacht in Rom im Freien geraucht wird. Später werden Gitarrist Adrian Belew, Bassist Trey Gunn und Schlagzeuger Pat Mastelotto im Licht stehen, Fripp aber im Dunkeln. Er will es so. Jetzt muss ich etwas über King Crimson erzählen. Gegründet 1969 von Robert »Bob«0 Fripp, hatte die Band gleich einen Hit. Es sollte der einzige bleiben. 1974, nach vier heute esoterisch wirkenden Alben, löste der Chef die Band auf, die er immer als »Projekt« verstanden hatte. Die Musik sei einen Weg gegangen, der ihm nicht gefalle, verkündete er. 1981 rief er erneut Musiker zusammen, es kam zu drei feinen Achtziger-Jahre-Alben, doch 1985 war dann schon wieder Schluss. Neun Jahre Pause mit King Crimson, während Fripp mit anderen Musikern seltsame Platten einspielte, wobei man seinen hypnotischen lyrischen Stil auf der Gitarre immer klar heraushört.
Die Crimson-Platten nach der Jahrtausendwende, nach dem 30-jährigen Jubiläum, sind brachial, aggressiv, hektisch, mit wenig lyrischen Einsprengseln. Die Welt war anders geworden. Und immer wenn Fripp erkannte »There’s work to do«, formierte er King Crimson neu. Jedenfalls spielt Bob Fripp fast jedes zweite seiner Werke live ein, weil er denkt, dass Musikmachen ein heiliger Akt ist und das wahre Leben. Musik von CD sei wie ein Liebesbrief, schreibt er, aber Livemusik wie ein echtes Rendezvous. Über Radfahren lesen ist schön, doch das wahre Leben findet auf dem Fahrrad statt.
Die Spannung steigt. Kurz nach neun. Zwanghafte, pedantische Genies wie Fripp sind meistens pünktlich, denke ich mir. Große Vorfreude. Bewegung im Dunkeln da vorn, leicht erhöht. Schatten greifen sich ihre Instrumente, drei Spots blenden die Musiker, und aus den Lichtern in der Dunkelheit heraus kommt die erste Breitseite auf uns: das Stahlgewitter von Power to Believe. Das ist böse, grimmig, sie feuern ihre Munition ab, und schon stecken wir stecken drin im Taumel. Gunn hat diesen Stummelbass, Mastelotto ist kaum zu sehen, nur seine Schläge fahren uns in die Magengrube, während Belew am Mikro hängt und hineinschreit, Fripp kaum sichtbar herumhantiert.
Wir sehen ein Live-Konzert der Crims 2003 in Japan. Bei 07:40 hören wir Level Five (ich hatte das gemeint, als ich Power to Believe gemeint hatte …) und bei 41:34 One Time, das gleich erwähnt werden wird.
Schluss, Beifall; zackflapp, die Perkussion, zackflapp, dann kommt ein tänzerischer Bassrhythmus hinzu, Fripp spielt schön drumrum, »One Eye goes laughing, one eye goes crying …«, die schöne Ballade One Time ist das, meine Güte, wie wunderbar. Standing on shifting sands. Und Heartbeat! My hands in your hair. Da ist es wieder, dieses Verträumte, Schwebende wie Rauchwolken vor dem klaren Julihimmel, die nun doch aufsteigen aus den Zuschauergrüppchen. Wie machen die Musiker das bloß? Wir sind verzaubert. Bis sie dann wieder böse werden, die Crimsons, und uns The Construkction of Light um die Ohren hauen, als wären wir Bäume im Wald.
Sie spielen zwei Stunden. Kein 21st Century Schizoid Man, kein Starless, nichts aus früheren Epochen. Gewaltig dennoch. Wir drängen uns hinaus, die Treppen hoch, und vor mir erkenne ich eine vertraute Gestalt, die sich umdreht — Chiara. Sie reißt die Augen auf, als hätte sie ein Ungeheuer gesehen. Dann findet sie Worte: »Hi! Ich wollte mal deine schreckliche Musik live erleben. Ist schon ungeheuer.« Sie küsst mich und sagt: »Ich muss heim. Ci vediamo.« Wir sehen uns. Sie küsst mich nochmal und hält mich an der Jacke fest. Giuseppe sieht zu, während die Menschen an uns vorüberwogen.