Am Tiber mit Musik (3)

Und nun noch das melancholische Ende des Romans, das auch durch Musik eingeleitet wird. Da war eine polnische Jazzwoche in Rom, und ich sah das Mariusz-Bogdanowicz-Quartett, was mir Anlass gab, es im Buch auch auftreten zu lassen. So hat der Roman Tod am Tiber seinen eigenen Soundtrack, der auch der meiner Rom-Jahre ist.

So endet Tod am Tiber, doch es ist meine Manuskript-Fassung. Die Lektorin strich mir zwei Absätze weg, und es waren genau die, die sich heute prophetisch lesen: mit der Epidemie und der Klimakatatrophe. Da sehen wir’s mal, was ein Autor sehen kann, der sich drauflosschreiben lässt. Auch die Stelle mit Chet Baker steht nicht im Roman — doch hier ist der Director’s Cut: 

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Die Trajansmärkte breiten sich gegenüber vom Marmorkoloss an der Piazza Venezia aus, am Eingang der Via dei Fori Imperiali. Der Eingang ist an der Via Nazionale. Ich binde flugs mein Rad an einen Pfahl und eile hinein. Hat wohl schon angefangen, das Konzert, ein Helfer mahnt mich, leise zu sein und deutet in den dunklen Saal vor uns, in das Gewölbe. Links und rechts Stühle, nicht einmal fünfzig Zuhörer, hinten steht die Band um den polnischen Bassisten Mariusz Bogdanowicz, und die Musik erfüllt den Saal. Da spielt ein Musiker schon ein schönes Saxofonsolo, das abbricht, dann ein lyrisches Intermezzo vom Bass … Ich hatte vergessen, wie schön das ist. Ich sitze in der letzten Reihe, aber das macht nichts.

Ein neues Stück, so federleicht, so sommerlich, so innig: Sologitarre, ein wenig Perkussion als Begleitung und als weitere Untermalung sparsames Akkordeon, was dem Ganzen einen traurigen Unterton gibt. »Café Boa« heißt der Titel, werde ich später auf der CD lesen. Das ist Musik, wie gemacht, um seinen Gedanken nachzuhängen. Es ist der ideale Abspann für diese hitzigen, verwirrenden Taten und Untaten am Tiber. Die Gitarre hört auf, nur noch Becken und Akkordeon, da passt der Applaus für den Gitarristen hinein, schön. Geborgen fühlt man sich im dunklen Gewölbe, Musiker und Publikum weben an einem Kunstwerk, das Konzert heißt. Das Leben müsste ein Jazzkonzert sein.

Vor vielen Jahren stand ich in der alten »Fabrik« in Hamburg-Altona und schaute hinunter, wo Chet Baker auf einem Holzhocker saß, in seine Trompete blies, diese absetzte und mit spröder, zerbrechlicher Stimme sang. Überirdisch. Neben mir stand der Jazzkritiker der Agentur, der kleine dicke Singer, und unsere Blicke trafen sich, fassungslose Blicke wegen dieser Intensität. Wir waren Zeugen einer ungeheuren Trauer.

Ein halbes Jahr später starb Chet Baker, der Wundertrompeter, in Amsterdam, im Drogenrausch aus dem Hotel gestürzt. Auch Miles Davis habe ich vor seinem Tod noch in Hamburg gesehen, zwei Mal, zuletzt auf dem Dach eines Geschäftshauses, er wie immer in schwarzes Leder gekleidet, und bei einem Solo eines seiner Kollegen hielt er immer ein Schild mit dessen Namen hoch. In seiner Autobiographie schrieb Miles, schon mit über sechzig, er habe das Gefühl, das Beste komme noch.

Schön, dieses Akkordeon, Jazzbesen, der Bass dehnt seine Töne lang – man kann über Musik auch nicht richtig schreiben, man müsste eine andere, eine metaphorische Sprache bemühen mit gischtsprühenden Wasserfällen, Licht, das durch ein Blätterdach des Dschungels fällt, leere Bar am Meer in Mojácar, Dunkelheit über den Sümpfen von Grosseto – oder Platzregen, warm, über einem afrikanischen Dorf während der Dämmerung, jetzt, wo die Band noch mal zündet.

Hier spielt eine Jazzband mit Bogdanowicz den Confiteor Song, 2013 in Danzig war das.

Es gibt eine Zugabe. Und, kaum zu glauben, Bogdanowicz spielt mit seiner Band »Starless« von King Crimson, das die englische Band vorgestern Abend nicht spielte. Akustisch und mit Hingabe spielen sie es, und es will kein Ende nehmen. Und so hat sich auch das vollzogen. Unfassbar! Die Band verneigt sich und packt ein.

Die Zuschauer erwachen aus ihrer Trance. Wir alle müssen wieder in unser Leben zurückfinden. Ich gehe in den Raum, in dem die Musiker verschwunden sind und sage ihnen »Grazie«, vor allem für das »Starless« vom Schluss. Verblüffte Blicke; man will sicher lieber für ein eigenes Stück gelobt werden. Dann wieder draußen, gemäßigter Abendverkehr, das war das Konzert. Die Musik begleitet mich die Viale Trastevere entlang, dieses so erwachsen und abgeklärt klingende Altsaxofon, das Tacken der Percussion, der Baß …

Ein eigenartiger Geruch hängt in der Luft. Die Stadt ist leer. Ein paar Gestalten, behangen mit Fetzen als notdürftiger Kleidung, schleppen sich auf der Viale Marconi dahin, lungern an der Brücke herum, und wenn sie dich sehen, rufen sie: »Erbarmen!« Alle Kriege im Nahen Osten waren sinnlos. Tausende Tote waren sinnlos, wie alle Tode der Kriege sinnlos sind. Die Katastrophen hatten sich untereinander abgesprochen. Es gibt kein Erdöl mehr. Der Kapitalismus sackt gerade weltweit rauchend in sich zusammen wie die zwei Türme im September 2001.

Der Pesthauch einer Epidemie hat die Städte entvölkert. Auch das ging schnell. Die wenigen Flugzeuge, die noch flogen, trugen das Virus in die großen Zentren. Die Klimakatastrophe brachte die Meere in Bewegung, und das Wasser überrannte die Uferzone, Ostia gibt es nicht mehr; die Küste verläuft nun auf der Linie Malagrotta / Ponte Galeria / Vitinia, gerade außerhalb des Autobahnrings Gra, jenseits des Radwegs Tiber Süd. Da schwappt es, gierig, und einige Schnauzen von Autos schnappen noch nach Luft.

Um Nahrung zu suchen, haben sich die wenigen Überlebenden Tücher um die Nase gebunden, ihre alten Räder aus den Kellern geholt, und nun fahren sie und plündern die bereits ausgeräumten Supermärkte innerhalb des Grande Raccordo Anulare. Doch hier ist alles leer, alles still. Wenn Ferdinand Gregorovius das wüsste! Rom ist zu einer Wüste geworden, in der die Sekunden ungehört in die Ewigkeit tropfen. Was tut der Papst? Er soll in seine Sommerresidenz geflüchtet sein. Im Vatikan hatten sie anscheinend noch einen Kanister Benzin übrig. Rudi jedenfalls braucht kein Benzin, no benzina! Er fährt weiter und erreicht sein Heim.

DSCN2508Oben lege ich die Beine auf das Geländer. Vollmond. Morgen wird er wieder eine starke Lichtration hinüberpumpen ins Lichtreich. Guter Mond. Ich finde in einem Plastiksäcklein ein paar Teelichter, lege sechs nebeneinander auf die Brüstung und zünde sie an. Ludwik, Leszek, Stepan, Antun, Leo, eine unbekannte Frau. Sind das alle? Wird Lila überleben? Meine private Totenwache. »Aus der Welt der Finsternis werde ich dich zum lichten Wohnsitze emporheben«, sagt Manda d’Haije. »Sie alle sind nun im Haus der Vollendung.« Ich gieße mir Weißwein aus den Marken ein. Bagdad ist da vorne, Rom hinter mir, Kaschmir dort drüben. Der Schweiß läuft mir langsam von den Schläfen herunter und kriecht unter das T-Shirt. Ich lasse alles mit mir geschehen.

Da höre ich Wehklagen vom Radweg. Stehe auf. Schaue hinunter. Ja, die Flagellanten sind unterwegs, unten ziehen sie vorbei, und, so schreibt der mitfühlende Chronist Ferdinand Gregorovius, ein Herz aus Stein müsse man haben, wenn man nicht alles stehen- und liegenlassen und sich der Rotte anschließen wolle, die weinend und Geißeln schwingend durch die Straßen sich wälze.

Es blinken Amulette, Tücher wallen, sie schleudern die Geißeln nach links und nach rechts, es blitzt überall, grobes Tuch tragen sie, langes Frauenhaar fliegt, und das kollektive Jammern hüllt sie ein, und diese zwei Dutzend Menschen stolpern wie hinter Glas dahin in der Vollmondnacht. Die Straßenlaternen leuchten grell dazu.  Ich schaue fasziniert hin, trinke mein Glas leer, werfe es hoch aufs Flachdach und höre es dort weiter kullern. Dann werfe ich mir die Jacke über und laufe, da ich kein Herz aus Stein habe, hinunter, um mit ihnen zu sein, den Flagellanten.

Doch da ist niemand mehr, sie müssen abgezweigt sein. Der Radweg ist wieder leer, das Schilf rauscht; keine Seele. Nur die Lichter der Autos gehen unermüdlich auf der Magliana-Brücke hin und her, her und hin Lichtteilchen schleppend, als müssten sie die Welt aus ihrer Dunkelheit erretten.

 

 

 

 

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