Wilhelm Reich
Der Freud-Schüler Wilhelm Reich (1897-1957) sorgte in den 1940er-Jahren für ziemliches Aufsehen durch seine bizarren Theorien, die ihm ergebene Jünger und zahlreiche Feinde verschaffte. Es lohnt sich, kurz darauf einzugehen, weil Charles Rycroft (1914-1998), ein Fachkollege, so brillant und überparteilich darüber schrieb — und weil er sich dabei kurz fasste.
Ich hätte das Buch beinahe weggegeben, las es vorher aber zum Glück noch durch (100 Seiten), und jetzt versuche ich, das Gelesene auf zwei Seiten zusammenzufassen. Wilhelm Reich kam 1897 in Galizien zur Welt und wurde ein Schüler Sigmund Freuds in Wien. Als dieser es ablehnte, ihn zu analysieren, trennte sich Reich von ihm, und nachdem die Nationalsozialisten ihn angegriffen hatten, emigrierte er nach Kopenhagen, dann nach Oslo und 1939 schließlich nach New York. (Links sein Porträt von dem österreichischen Fotografen Ludwig Gutmann, 1869-1943)
Reich war schon früh aus der psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen worden und danach auch aus der Kommunistischen Partei. Als Analytiker jedoch war er beispielhaft: Die Beziehung zwischen diesem und dem Klienten war für ihn entscheidend und wichtiger als jedes Theoriegebäude. Seine Persönlichkeit wirkte stark.
In den USA fasste er seine Thesen zu Büchern zusammen. Seiner Meinung nach lege sich der Mensch notgedrungen durch den Druck der Gesellschaft einen Charakterpanzer zu und unterdrücke seinen sexuellen Appetit. Der Orgasmus stand im Mittelpunkt von Reichs Gedankenwelt. Wenn alle Menschen sich ungestört der Liebe hingeben würden, wäre die Gesellschaft eine bessere, dachte er. Rycroft schrieb:
Reichs Darstellung des idealen sexuellen Akts war bemerkenswert für seine Offenheit … sowie für die Fortlassung eines Wortes: »Liebe«. Und dennoch ist es klar, dass es die Liebe ist, über die er spricht, … doch in jener Phase seiner Entwicklung verbot ihm das seine Nähe zum naturwissenschaftlichen Gedankengut.
Laut Reich hängt vom Orgasmus die psychische Gesundheit ab, und Geisteskrankheit sei eine Hemmung, Liebe ausdrücken zu können. Die autoritäre und mechanisierte Gesellschaft raube den Menschen ihr Selbstbewusstsein. Wer in einer lebens- und sexfeindlichen Umgebung aufwachse, entwickle Ängste, die sich in Muskelkrämpfen äußerten. Und der Hauptsatz wörtlich:
Jene Einheit von Kultur und Natur, Arbeit und Liebe, Moralität und Sexualität, nach der sich die Menschheit fortwährend sehnt, diese Einheit wird so lange ein Traum bleiben, solange der Mensch sich nicht die Befriedigung seiner biologischen Bedürfnisse durch die natürliche (orgasmische) sexuelle Betätigung gestattet.
Rycroft hebt hervor, dass daran vieles fragwürdig sei: Es gebe auch andere Geisteskrankheiten, etwa organische. Die Ängste resultierend durch Sex-Vermeidung hatte schon Freud erwähnt, als er überlegte, was mit der unterdrückten sexcuellen Energie geschehe, doch es gibt keine Belege dafür (immerhin erwähnte Freud die Sublimation: der Trieb wird zu Kunst). Vieles bei Reich stehe einfach so da, als erhalte es seinen Wert dadurch, dass er, Wilhelm Reich, es geschrieben hätte, der Jesus Christus und Giordano Bruno für seine Vorläufer hielt. Selber war er eifersüchtig, leicht zu beeindrucken und kämpfte stets gegen den Rest der Welt.
Und dann entdeckte er die Orgon-Energie. Da holte Reich weit aus: Was beim Orgasmus freigesetzt werde, sei »in funktioneller Hinsicht identisch« mit Liebe. Diese fliegt in Form von gewichtslosen Teilchen umher und lässt sich — als Orgon-Energie — von Geiger-Müller-Zählern auffangen. Reich, der den Naturwissenschaften anhing, meinte also, die Liebe in Form von zählbaren Einheiten entdeckt zu haben. Der Meister schrieb:
Der sich bewegende anfängliche Orgon-Ozean erscheint als der allererste Beweger der Himmelskörper. …
Die physikalische Lebens-Energie war in konsequenter Folge der Verfolgung jener Funktionen entdeckt worden, die im ganzen animalischen Reich LIEBE genannt wird.
Plötzlich spricht Wilhelm Reich das Wort aus! Und er berührt damit ein weites Feld, das von Prana, Chi und Od bereits besetzt schien, das aber unauslotbar bleiben wird.
Charles Rycroft kommentiert mit feiner britischen Ironie, was Reich auch behauptet hatte:
Übrigens werden beide, Zyniker und Romantiker, mit Befriedigung zur Kenntnis genommen haben, dass die Liebe blau ist.
Reich baute als nächstes Organ-Akkumulatoren aus Schichten von Stahl und Wolle, in die man sich einschließen konnte, um mehr Energie zu bunkern. (Ähnliche Produkte gibt es heute noch.) Die US-Regierung hatte dafür wenig Verständnis, verbot die Geräte, zwang Reich dazu, seine Bücher zu verbrennen (20 Jahre nach den Nazis) und wies ihn in die Psychiatrie ein, wo er am 3. Novmber 1957 starb.