Woanders neu anfangen
Ein Buch des Literatur-Nobelpreisträgers (2014) Patrick Modiano (Encre sympathique) brachte mich wieder auf das Thema verschwundene Menschen. In Krimis wird ja gern Vermissten hinterherrecherchiert und eine Lösung präsentiert. Im echten Leben bleiben einige Fälle offen, so dass man nie wissen wird, was geschehen ist. Versuchte jemand, woanders ein neues Leben anzufangen?
Die Geschichte von einem neuen Leben gehört ja zu manipogo. Jemand erfährt eine Erleuchtung oder macht eine Todeserfahrung und verändert danach sein Leben.Erst verändert sich das Bewusstsein, und das Übrige folgt folgerichtig. Es mag Menschen geben, die so in der Klemme stecken, dass sie sich nur durch Flucht retten können. Andere verunglücken und werden nie gefunden, wieder andere fallen einem Verbrechen zum Opfer.
Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland 104.000 Menschen vermisst gemeldet. 100.000 Fälle davon wurden aufgeklärt, nur 4000 blieben ungelöst. Man weiß, dass nach einem Woche 80 Prozent geklärt werden, und am Ende des Jahres sind nur 3 von 100 Verschwundenen noch abgängig. Heute liegt die Zahl der dauerhaft Vermissten bei 10.000.
Früher kursierte die Geschichte des Mannes, der Zigaretten holen ging und nie wieder zurückkam — bis er eine Postkarte aus Australien schickte. Aber ich denke, Menschen, die sich eine neue Identität suchen, sind ein verschwindend kleiner Teil der Vermissten.
Seine alte Identität wird man los, wenn einen die Amnesie überfällt: Gedächtnisverlust. Das kann nach traumatischen Erlebnissen geschehen, legt sich aber meistens wieder.Der Fall Ansel Bourne (1826-1910), der unter neuem Namen in einem ihm fremden Ort ein Geschäft aufmachte, gehört aber eher zur Multiplen Persönlichkeit: Denn zwei Monate später wachte er auf und hatte die Episode vergessen.
Sicher gibt es in der Literatur zahlreiche Fälle, in denen eine Romanfigur einen neuen Namen annimmt und sich neu erfindet. Das wird im Leben zwar meistens Illusion bleiben, denn man steckt eben in seiner Haut; doch es ist eine Chance, sich aus einer bedrückten Situation zu befreien. Doch dazu braucht man auch Energie, und viele bringen diese leider Gottes nicht auf; sie reicht immerhin noch dazu, sich das Leben zu nehmen, warum nur, das ist so endgültig!
Bei Alzheimer ist oft nur das Kurzzeitgedächtnis beschädigt: Man vergisst jemanden, sobald er weggegangen ist. Das ist eine Gehirnkrankheit, doch könnten nach meiner Meinung auch unbewussste Prozesse eine Rolle spielen: Derr (meist) alte Mensch blendet sich aus und zieht sich in seine Innenwelt zurück. Er will mit der Welt dort draußen nichts mehr zu tun haben.