Zimmer und Orte

Noch etwas zu den Orten des Paul Tournier: Der Mexikaner Octavio Paz (1914-1998) nannte ein Gedicht Zimmer und Orte, Straßen, Namen, Zimmer, und der Anfang ist eine Erinnerung an Madrid 1937. Da verewigen zwei Menschen einen Ort und machen ihn sich unsterblich, und Paz, Literatur-Nobelpreisträger 1990, machte sie unsterblich, obgleich er ihre Namen nicht nennt, indem er ihren heiligen Akt schildert.

Das Gedicht, übertragen von Fritz Vogelgsang (1930-2009), beginnt so:

Madrid war’s, 1937,
auf der Plaza del Angel nähten Frauen,
nähten und sangen dort mit ihren Kindern,
später kam der Alarm, und es gab Schreie,
Häuser, ins Knie gebrochen, tief im Staube,
Türme, zerspalten, und erbrochne Stirnen,
darüber das starre Stürmen der Motoren:
die zwei legten die Kleider ab und liebten
sich, um unseren Anteil zu behaupten,
den ewigen, unsre Ration an Zeit und
Paradies, unsre Wurzeln zu berühren,
uns wiederzuerwerben unser Erbe,
das man vor tausend Jahren uns entrissen,
die zwei legten die Keider ab und küssten
sich, denn die verflochtne Nacktheit beider
überspringt alle Zeit, ist unverletztlich,
nichts berührt sie, sie kehren heim zum Anfang,
da ist kein Du, kein Ich, kein Morgen, Gestern,
nur namenlose Wahrheit, zweifach einig
Körper und Seele, volles Dasein …

Für die jüdischen Kabbalisten symbolisierte der geschlechtliche Akt, mit Bewusstsein vollzogen, die Hochzeit einer höheren Ebene, das Zusammenkommen von Himmel und Erde; wenn sich der Mann zur Frau legte und beide ihre Gedanken auf die heiligen Regionen richteten, würde das Licht zu ihnen herabkommen und mit ihm die Schechinah, Gottes Anwesenheit auf Erden. Diese Interpretation hat auf das jüdische Sozialleben eingewirkt, Sexualität war ein lebensspendender Akt und auch wichtig für die oberen Regionen.

Filip Müller beschrieb in seinem Buch Sonderbehandlung (1979) seine schwere Arbeit, die Leichen aus den Gaskammern in Auschwitz-Birkenau zu holen. Einmal, als er keine Lust mehr hatte, schlich er sich selber ein — und wurde von den Insassen wieder hinausbefördert, die ihn retten wollten. Er bemerkte, dass in der Gaskammer Paare, denen klar war, dass sie gleich sterben würden, sich noch einmal rasch vereinigten. Er beschrieb, was er später sah:

Auf den Leichenhaufen waren die Menschen ineinander verschlungen, manche lagen sich noch in den Armen, viele hatten sich im Todeskampf noch die Hände gedrückt, an den Wänden lehnten Gruppen, aneinandergepresst wie Basaltsäulen.

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