Minuten dehnen sich zu Stunden
Die subjektive Zeit. Wir messen sie, aber niemand kann sie beweisen, niemand hat sie gesehen. 90-Jährige sagen: Wie schnell doch das Leben vergangen ist! Umgekehrt nehmen Menschen bei Unfällen alles in Zeitlupe wahr, weil ihr Gehirn irrsinnig schnell arbeitet, und in unseren Beispielen, entnommen aus einem Roman Dostojewskis, dehnen sich Sekunden zu Stunden.
Der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewski (1821-1881) hat fast alle Aspekte der conditio humana ausgeschöpft. Er konnte sich in seine Protagonisten einfühlen und erspürte in der menschlichen Seele mehr als andere. In seinem Roman Der Idiot (1869) spricht Fürst Myschkin, der Titelheld, über einen Freund, der mit sieben anderen erschossen werden sollte (und im Folgenden geht es wohl um Menschen, die nicht davongekommen sind; rechts sehen wir den Dichter auf dem Totenbett, 1881 geschaffen von Ivan Kramskoi):
Etwa fünf Minuten hatten sie noch zu leben, nicht mehr. Und er erzählte, diese fünf Minuten seien ihnen wie eine Unendlichkeit vorgekommen, er habe sich für ungeheuer reich gehalten; er habe geglaubt, er könne in diesen fünf Minuten noch so viele Leben durchleben, dass er jetzt noch gar nicht an den letzten Augenblick zu denken brauche; er teilte sich die Zeit genau ein: erst wollte er von den Genossen Abschied nehmen; dafür setzte er zwei Minuten an, die folgenden zwei Minuten wollte er dazu verwenden, ein letztesmal still nachzudenken; in der letzten Minute wollte er dann noch einmal rings um sich schauen.
Über einen zum Tode Verurteilten schreibt Dostojewski:
…endlich fährt man ihn durch die Stadt zum Schafott … Ich glaube, auf dieser Fahrt muss er denken, dass er noch unendlich lange zu leben hat. Mir scheint, er hat unterwegs gedacht: Es dauert noch lange, noch drei ganze Straßen lang kann ich leben; erst kommt diese, dann noch jene und endlich die, wo sich rechts der Bäckerladen befindet … wer weiß, wann wir erst beim Bäcker sind!
Lebedew, ein Beamter wiederum im Roman Der Idiot, sagt über die Gräfin Dubarry:
So ist sie gestorben: nach all den Ehrungen wurde diese gewesene Herrscherin vom Henker Samspon auf die Guillotine geschleppt, unschuldigerweise, zum Spaß für die Pariser Poissarden – und sie verstand vor Schreck gar nicht, was mit ihr geschah. Sie sieht, dass er ihren Hals unter das Messer drückt und ihr Fußtritte versetzt – und sie lachen alle − und da schreit sie auf: »Encore un moment, monsieur le bourreau, encore un moment!« Was bedeuten soll: »Einen Augenblick, warten Sie, Herr Scharfrichter, einen Augenblick noch!« … Als ich von diesem Schrei der Gräfin und dem einen Augenblick las, da war es mir, als würde mein Herz mit Zangen zusammengedrückt.