Stimmen, verstummt

Ein neues Jahr; wir gehen wieder an die Geschäfte. Und stellen ein Buch vor, das ich im Dezember in einer Woche gelesen habe, immer am Morgen, und ich konnte nicht aufhören. Es heißt Voci (Stimmen) und wurde geschrieben von der 1936 geborenen italienischen Autorin Dacia Maraini, die so gut ist, dass sie schon öfter für den Literatur-Nobelpreis im Gespräch war. Das Buch wurde 1993 veröffentlicht, also vor 30 Jahren.

Man(ipogo) möchte ja positiv sein, doch das lässt sich nicht durchhalten, weil es unredlich wäre. Es gibt viele Probleme und traurige Vorkommnisse, DSCN2201die man nicht einfach ausblenden will. Bei den »Stimmen« geht es um Gewalt gegen Frauen, den femminicidio (Mord an Frauen), der hier vor zehn Jahren schon einmal erwähnt wurde und wozu seinerzeit auch Dacia Maraini etwas zu sagen hatte.

In ihrem Buch kehrt die Erzählerin, die Journalistin Michela Savona, von einer Konferenz nach Rom zurück und erfährt, dass ihre Nachbarin, die schöne Angela Bari, mit vielen Messerstichen getötet wurde. Sie untersucht den Fall und soll sogar für ihren Arbeitgeber, Radio Italia Viva, eine Serie über den Mord an Frauen vorbereiten, was ihr Gelegenheit bietet, das vorhandene schreckliche Material auszubreiten.

Ich glaube, vor 30 Jahren wurde in Italien jeden Tag eine Frau von ihrem Liebhaber/Ehemann ermordet, 300 im Jahr. Diese Fälle erregen auch jetzt noch Aufsehen, immer wieder passiert es, aber vielleicht sterben jährlich »nur noch« 150 Frauen. In Deutschland gab es im vergangenen Jahr 126 solcher Fälle. Weltweit wurden (im Jahr 2021) 45.000 Frauen von ihrem Partner oder Ex-Partner umgebracht.

thaddioMitte Dezember erregte sich Italien über den Mord an der 22-jährigen Giulia Cecchettin. Ihr Ex-Verlobter Filippo Turetta war höchst eifersüchtig und manipulativ. Sie habe Angst vor ihm gehabt, erzählten Freunde. Zehn Tage vor der Tat rastete er in einer Eisdiele in Padua aus und verbot Giulia, ihre Freundinnen zu treffen. Wenn sie es dennoch tue, werde »nichts wie vorher« sein. Turetta bombardierte sie auch mit Audio-Botschaften, in denen er verlangte, sie müsse mit ihm sein, nicht mit anderen. Eine Freundin erlebte die Szene in der Eisdiele mit und erzählte sie der Fernsehsendung Chi l’ha vista?, in der es um vermisste Menschen geht. Denn von Giulia Cecchettin fehlte seit dem 11. November jede Spur.

Am 23. November wurde dann ihr Körper gefunden. Sie starb vielleicht in Turettas schwarzem Fiat Punto, mit dem er dann nach Deutschland flüchtete, wo er wenige Tage danach — bei Leipzig — gestellt wurde. Den deutschen Beamten sagte er: »Ich habe meine Verlobte getötet.« Sie erlitt 20 Messerstiche — ebenso wie Angela Bari in dem Roman »Voci« vor 30 Jahren; so wiederholt sich alles, verrückt ist so eine Koinzidenz.

Michela sieht die blauen Turnschuhe ihrer Nachbarin im Flur und sieht sich Stefana gegenüber, die im Parterre als Portier (oder Portière?) amtiert. Sie hat die Augen weit aufgerissen vor Schmerz.

»Haben Sie das nicht gewusst?«
»Gewusst was?«
»Sie ist tot, vor fünf Tagen war das, man hat sie umgebracht.«
»Umgebracht?«
»Zwanzig Messerstiche, wie in einem Anfall … und den, der es getan hat, haben sie noch nicht gefunden. Wir Armen.« 

Giulia Cecchettin hatte Biomedizin studiert, und sie hätte ihre Master-Arbeit nur noch mündlich verteidigen müssen. Doch sie verschwand wenige Tage vor dem Termin in der Universität Padua. Am 2. Februar soll sie in einer Feierstunde posthum ihren Titel als Biomedizin-Ingenieurin erhalten. Diese Tat bewegte ganz Italien, alle verfolgten das Begräbnis am 6. Dezember, was jedoch auch an diesem Medien-Wahnsinn liegt. Auch in Italien werfen sich alle auf die »große Geschichte«, weil das geballte Emotionen verspricht; da steckt ein dickes Stück Zynismus mit drin.

Am 16. Dezember starb durch 8 Messerstiche die 27-jährige Vanessa Ballan, die ein 5-jähriges Kind hatte und schwanger war. Sie wollte ihren Partner demnächst heiraten, doch ein anderer, mit dem sie früher ein Verhältnis gehabt hatte, verfolgte sie rastlos. Vanessa ging zur Polizei, doch die unternahm nichts und steht nun unter Druck. Am 29. Dezember wurde sie in einem Ort in Venetien bestattet.

Im Dezember sah ich noch den Film »Die weisse Massai« von 2005, Regie Hermine Hunthgeburth, in der Hauptrolle mit Nina Hoss. Das Buch von Corine Hofmann war ein riesiger Erfolg und geht auf eine wahre Begebenheit zurück. Sie verliebte sich in einen jungen Massai und lebte mit ihm vier Jahre in Barsaloi in Kenia, bekam dort auch ein Kind.

Der Film zeigt, wie der junge Mann plötzlich behauptet, sie betrüge ihn, sie habe einen Freund; wie er völlig ausrastet, weil seine Frau, angeblich sein Besitz, ihm zu entgleiten droht. Dann ein Messer zur Hand, und man kann sich vorstellen, wie dieser Irrsinn zum Mord führt. Wenn du mir nicht gehörsn willst, musst du sterben; du sollst keinem anderen gehören. Doch 20 Mal zustechen in einen Menschen, der einst viele Male nachts neben einem lag … das sich auszumalen fällt schwer.

 

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.