Lebende Stimmen

Der Roman von Dacia Maraini heißt auch Stimmen, weil die Autorin uns viel über sie erzählen kann: Was Stimmen verraten und was sie verbergen. Was wir so reden, tun wir ganz spontan und denken nicht darüber nach; die Radiojournalistin hingegen, die es Tag für Tag mit Stimmen zu tun hat, hört vieles heraus … vielleicht auch, wenn jemand lügt.

Am Beginn des Romans hört Michela auf ihren Anrufbeantworter die Stimme ihrer Nachbarin, die sie offenbar kurz vor ihrem Tod noch hatte sprechen wollen. Wenn man darüber nachdenkt, ist das schon etwas Geisterhaftes: eine Stimme im Raum ohne Körper dazu. In diesem Fall gehört die Stimme zu jemandem, der nicht mehr lebt — fast eine Stimme aus dem Totenreich.

Marc Macy ist mit seiner Seite The Beacon ja auf der manipogo-Blogroll. Der Amerikaner nahm in den 1990-er Jahren an den Kontakten von Maggy Harsch-Fischbach und ihrem Mann Jules in Luxemburg zur anderen Seite teil und hat Gespräche aufgezeichnet. Wem es nicht gruselt, der möge in dem Beitrag Spirits Talking Through Radio das zweite Tonbeispiel anklicken, in dem der 1974 gestorbene Konstantion Raudive sich aus dem Jenseits meldet, was er auf Englisch tut.

Die Spirit Phone Calls sind auf Deutsch, und wenn wir weit hinuntergehen zum Kapitel Friedrich Malkhoff, hören wir Konstantin auf Deutsch reden (darunter steht, was sie sagen). Irgendwo schreibt Macy, einmal habe ihn ein Geister-Betrüger angerufen (sowas gibt es!) und sich als Raudive vorgestellt, doch habe er sogleich gehört, dass es nicht der echte war. (Vielleicht schreibe ich dieses Jahr mehr über Kontakte mit Verstorbenen via Radio und Telefon.)

Die Geister flüstern, sagt uns Peter Anthony, den wir morgen näher vorstellen. Manche Menschen hören Stimmen und werden sie nicht los, landen in der Psychiatrie. Es kann vorkommen, dass man sich einen Dämon »zuzieht«, der einem schaden will und einem Schlimmes einflüstert. Es gibt auch gute Stimmen, von unserem Geistführer etwa, und denen kann man glauben. Franco Romero (er kommt auch bald dran) nannte seine Stimme »Kelab«, und sie wollte ihn weiterbringen. Die guten Stimmen erkennt man sofort. Anthony erklärte, er wisse in seinem Herzen, dass die Stimme gut sei, und die Stimmen außerhalb (von skeptischen Zeitgenossen) zählten nicht.

Wir sollten öfter an die Stimmen denken. Alle unsere Freunde haben eine prägnante, und ich höre erst die Stimme von einem, bevor ich ihn mir bildlich vorstelle. Das Aussehen ist nur zweidimensional; in der Stimme steckt eine Dimension mehr, da ist Seele drin.

Michela, die Journalistin, schaltet bei ihren Interviews immer ihr kleines Nagra-Tonbandgerät ein und nimmt die Stimmen auf. Es war vor 30 Jahren, und damals nahm man Musik und Töne auf Kassetten auf, diese handlichen Plastikdinger mit einem Band innen drin. Vor 200 Jahren freilich gab es so etwas nicht; in Romanen aus jener Zeit bestehen die »Dokumente«, die der Leserin präsentiert werden, um die Geschichte zu untermauern, meist aus Briefen oder Tagebuchnotizen.

Noch einmal das schöne Bild aus dem Studio zwei von "Radio wa"

Noch einmal das schöne Bild aus dem Studio zwei von „Radio wa“

Ich habe ja einmal geschrieben, dass man am Telefon sofort hört, wie es dem anderen geht, ob er verzweifelt oder verwirrt ist, und dass sich manchmal auch Liebe und Wärme übertragen. Michela hört genau, dass Glauco Elia, der Stiefvater Angelas, mit seiner Stimme »verführen« möchte, und andere werben mit ihrer Stimme um Einverständnis oder bleiben völlig neutral, legen sich eine Maschinenstimme zu.

Am Ende nimmt der Radio-Chefredakteur Michela den Auftrag weg, eine Reportage über ermordete Frauen zu machen. Die Kommissarin schlägt ihr vor, doch ein Buch darüber zu schreiben, und die Radiojournalistin überlegt (es sind die letzten Sätze des Romans), ob sie wirklich aus der Welt der Stimmen austreten solle, um sich mit der »geometrischen Logik des Geschriebenen« abzugeben? Verliere sie nicht viel, wenn sie die »vieläugigen, geschwätzigen« Stimmen nicht mehr hätte?

Doch das Geschriebene hat auch seine Geheimnisse und seine Tiefe. Ernest Hemingway (1899-1961) hat einmal gesagt, was abgedruckt sei, entspreche in etwa den sichtbaren 20 Prozent eines Eisbergs. Wenn ein Schriftsteller aufrichtig und gut sei, könne er vieles wegkürzen (viele Adjektive seien verzichtbar, meinte er), doch unterirdisch/unbewusst werde gleichwohl alles transportiert, was ihm wichtig sei.

Wenn wir miteinander reden oder Stimmen hören, wird viel mehr übermittelt, als wir meinen. Wir müssen vielleicht nicht alles hinschreiben. Alles Geschriebene ist vielschichtig und kann gedeutet werden. Was wir um uns herum sehen, ist nur eine Oberfläche mit viel Tiefe darunter und dahinter.

 

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