Das Traumfundbüro

Wiedeer einmal, Anfang des Monats war es, wachte ich auf und war selig: Ich hatte soeben einen wundervollen Traum gehabt. Leider war er weg. Keine Spur davon. Ich blieb liegen und murmelte mehrmals »Naor Gaor«, ein jüdisches Mantra, was helfen soll; trotzdem kam keine Erinnerung. Konnte ich noch etwas tun?

Ich war glücklich gewesen und wusste nicht warum. So mag es Menschen gehen, die plötzlich von der Demenz heimgesucht werden.

Doch dann, am selben Nachmittag, las ich (in Zammits Newsletter) die US-Zeitschrift »Inner Light«, deren neueste Ausgabe gerade erschienen war. Und darin fand sich ein Beitrag von Robert Moss über genau dieses Problem, und den übersetze ich jetzt ganz, denn es könnte sein, dass es auch anderen mal so geht. Es ist kein echter Traum, sondern eine Art Jenseitsreise in Trance, denke ich.

Das Kino der verlorenen Träume

Was passiert mit den Träumen, an die wir uns nicht erinnern? Diese Frage habe ich mir an einigen Morgenden gestellt, als ich mit wenig oder gar keinen Traumerinnerungen erwachte, obwohl die Nacht aktiv gewesen war.

31007219144_532b83f327_bAn einem jener Morgende entschied ich mich, im Bett zu bleiben und zu sehen, ob ich einen Ort finden könnte, wo verlorene Träume wieder zum Leben erwecken wären. Ich merkte, wie ich mich einem altertümlichen Kino näherte, das mich an ein Filmtheater erinnerte, in das ich als kleiner Junge gern ging, um die Samstags-Matinee mitzuerleben. Ich war erstaunt und erfreut zu sehen, dass dieses Mal die Kinotitel am Eingang und die Bilder auf den Posters in der Lobby überdeutlich auf mein gegenwärtiges Leben hinwiesen. (…)

Das Mädchen am Schalter lächelte und winkte mich hinein. Ich solle durchgehen. Bald saß ich in einem komfortabel gepolsterten Samtsitz in einem privaten Vorführraum. Als die ersten Traumbilder die Leinwand füllten, erkannte ich, dass ich die Wahl hatte. Ich konnte ein passiver Beobachter bleiben — oder ich konnte in die Handlung eintreten.

An einem anderen Morgen beschloss ich nach dem Kaffee, dieselbe Methode anzuwenden. Dieses Mal allerdings wurde ich nicht zu dem alten Kino gezogen, sondern es zog mich in eine Art Video-Shop, die heute fast ausgestorben sind, weil Filme auf andere Art vertrieben werden. Dieser Videoladen war sehr groß, und seine Produkte waren auf mehrere Ebenen verteilt. Auf der ersten Etage waren die Träume wie DVDs in Regalen platziert, nach vertrauten Kategorien — Drama, Komödie, Familiengeschichten und so weiter. Dann gab es eine große Sektion für Erwachsene, deren Inhalt mir nicht vertraut vorkam. Ich wusste, dass einiges von diesem Material mit einer Blockade versehen war, so dass es mein Bewusstsein nicht erreichen konnte oder — in Fällen, in denen ein Film mit E bewertet war (Eindringling), es mir in der Nacht nicht gestattet war.

Ich entdeckte Sektionen mit Träumen, die ich von bestimmten Menschen hatte. Ich musste mich nur auf einen Namen oder einen Titel konzentrieren, und schon lief der Film um mich her, und ich konnte in ihn eintreten, wenn ich Lust dazu hatte.

DSCN3071Auf einer niedrigeren Ebene des Traumvideoladens entdeckte ich, dass ich Traumabenteuer erforschen konnte, die ich mit anderen erlebt, aber vergessen hatte. Ich fand ein gigantisches Archiv mit »geteilten Träumen«, die ich mit diesen Menschen gehabt hatte. Eine Abteilung war so groß wie eine gotische Kathedrale, in der sich die Regale bis hinauf zum Dach erstreckten. An jedem Ort habe ich mir mehrere Traumvideos angeschaut.

Sie nahmen mich mit — lebhaft und tief hinein in Szenen aus anderen Leben und anderen Zeiten, mit Leopardenleuten in Afrika, mit keltischen Reisenden auf einem Boot in einem kalten nördlichen Meer; und ich war auf einem Schloss in einer wüstenartigen Landschaft, in der alles die Farbe von Sand besaß außer den hübschen sternförmigen Blumen, die, blau und purpurfarben, auf einer Terrasse standen.

Die Traumfilme wiesen eine versteckte Ordnung auf, eine geheime Verbindung zwischen uns allen, die unser gegenwärtiges Leben überstieg.

service-pnp-habshaer-dc-dc0600-dc0641-photos-030479prWieder an einem anderen Tag, als ich auf die Suche nach verlorenen Träumen ging, wurde ich zu einem Gebäude gezogen, das einem früheren Postamt glich. Es ähnelte dem Postamt von Troy, einem Außenbezirk von New York City, wo ich einmal gelebt hatte. Als ich in meinem bewussten Traum davor ankam, verdunkelte sich der Himmel. Ich stieg die Stufen hinauf und an den Briefkästen vorbei zu den Schaltern. Die meisten waren mit Rollladen aus Stahl für die Nacht geschlossen, aber einer stand noch halb offen.

Dahinter sah ich, wie Briefe aus Löchern quollen und Postsäcke und Pakete herumlagen. Eine kleine dunkelhäutige Frau in einer blauen Uniform eilte zum Schalter und reichte mir einen Brief. Als ich ihn öffnete und den Brief eines längst verstorbenen Familienmitglieds an mich fand, war ich zu Tränen gerührt.

Als ich der Postangestellten danken wollte, merkte ich, dass ich sie kannte. Ich hatte sie in halbvergessenen Träumen flüchtig wahrgenommen, als sie Briefe durch einen Briefschlitz in der Tür meines Hauses durchschob; doch den Schlitz gibt es in meinem echten Haus nicht. Sie ähnelte stark einer Gestalt aus der Geschichte, die ich in Träumen, an die ich mich sehr wohl erinnerte, studieren konnte — Harriet Tubman, eine Weltklasseträumerin, die ihre Visionen wie Landkarten benützte und damit vor dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg Sklaven half, durch den Untergrund die Freiheit zu gewinnen.

Ich nehme an, dass es in meinem Traumpostamt Hinterzimmer gibt, in denen noch mehr zu entdecken wäre. Vielleicht ist eines von ihnen wie das Schwarze Kabinett in französischen Postömter, in dem Briefe, die den Behörden verdächtig vorkamen, untersucht wurden, und oft wurden diese Briefe nie ihren Adressaten zugestellt.

All dieses führt zu dem Vorschlag: Wenn ihr eure Träume verpasst (oder die Träume euch verpassen), genehmigt euch eine stille Stunde, in der euch keiner stört, und sagt euch bewusst Folgendes vor:

Ich möchte gerne zu einem Ort gehen, an dem ich meine verlorenen Träume auffinden kann.

Vielleicht wird euch das zu einem Filmtheater führen, zu einem Videoladen oder einem Postamt oder an einen völlig anderen Ort, der aus euren eigenen Lebenserinnerungen entstanden ist und zu eurer Vorstellungskraft passt. In welcher Form auch immer es erscheint: Ihr werdet in das Traumfundbüro eintreten.

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Der Beitrag stand im Märzheft 2024 der Zeitschrift Inner Light. Robert Moss hat einen Blog, und mehr über Träume und die Kunst, sie wiederzufinden, steht in seinem neuen Buch Active Dreaming: Journeying Beyond Self-Limitation to a Place of Wild Freedom, erschienen bei New World Library. Mogen stellen wir ihn näher vor.

Fotos: Oben von Davide Palmisano, das Bild zeigt ein Kino in Urbino; unten der Durchgang zum Post Office von Washington, Urheber: Ronald N. Anderson, 1989; Dank an Library of Congress, Wash. D. C.

 

 

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