Rückkehr ins Leben (18): Rechenschaft
Die Panne beschäftigte mich nach dem Lesen, und »damals« (Mitte März) sprach ich beim Abendessen an einem Tisch im Pflegeheim darüber. Es ist etwas komisch, das nun (am 11. März) in die Zukunft hinein zu schreiben, aber der März ist schon voll bei manipogo, und der Autor ist immer schon 4 Wochen weiter, aber hier gehen die Zeiten ohnedies durcheinander, und alles ist zeitlos und könnte auch im Apil 2028 laufen.
Wir sprachen also über menschliche und göttliche Gerechtigkeit, ich lobte die menschlichen Versuche, ein abgewogenes Urteil zu fällen, und Frau Krüger kam mit dem schönen Einfall, Vergebung müsse erwirkt werden, damit alles stimme. Gerechtigkeit und Rechenschaft ablegen — da steckt ja auch die Rechnung drin; jemand bezahlt für seine böse Tat, bereut und ist befreit, und das Opfer bekommt Genugtuung.
Denken wir an ein Unrechtsregime, das viele Menschen töten lässt (Argentinien 1978, das Obristen-Regime in Griechenland, Franco in Spanien und Salazar in Portugel, damals …) und abgesetzt wird. Dann beginnt die Abrechnung: Die Missetäter werden zur Verantwortung gezogen. Doch will man nicht jahrelang Verfahren führen und alles aufarbeiten, man will einen Schlusstrich ziehen und neu anfangen. Meist wird eine Amnestie verkündet, aber das lässt auch viele unzufrieden. Desmond Tutu hat mit der Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika versucht, zu einem Neuanfang beizutragen, und 1998 erschien der Abschlussbericht. Im Dezember 2018 hatten wir einen Bericht darüber.
Es ist schon Abrechnung (das Wort hat eine böse Aura bekommen). Doch es soll zu einer Aussöhnung kommen: Der eine gibt zu, dass er falsch gehandelt hat, der andere verzeiht ihm und spricht nicht mehr von Rache. Dann kann ein neues Leben beginnen.
Denken wir an die Geschichte, die Dr. John Lerma erzählt hat (sie steht in der Mitte des Beitrags). Der Drogendealer, der 4 Menschen umgebracht hatte, warf sich das vor und konnte nicht sterben. Da erschienen ihm die Vier und baten ihn, sich zu verzeihen, andernfalls könnten such sie nicht weiterkommen. Ja, Täter und Opfer sind miteinander verbunden und müssen sich verständigen, wenn es weitergehen soll.
Leider scheint manche Schuld so schwer, dass es einfacher wirkt, sich davonzumachen und sich das Leben zu nehmen. Das geschieht nicht selten. Doch wird damit nichts gelöst; in der anderen Welt ist die Schuld (wenn es denn eine war) weiterhin da, und der oder die Betreffende hat neue Schuld auf sich geladen, weil sie denen wehtat, für die sie wichtig war. Dann wir der Ausgleich noch schwieriger, aber er wird gelingen.
Besser ist es, zu seiner Schuld zu stehen und ein neues Leben zu beginnen, auch wenn es Kraft kostet. Man könnte dieses neue Leben ja anderen armen Menschen widmen und damit etwas gutmachen; das wäre dann der Sinn der falschen Tat gewesen. Ein Bruch in einem Leben geschieht ja nicht nur durch eine Nahtod-Erfahrung, sondern auch durch eine Schuld. Darauf kam ich durch eine kleine Erzählung von Elsa Morante (1912-1985), von der wir Aracoeli vorstellten. (Ich habe so viele Artikel geschrieben, dass ich die meisten wieder vergessen habe; ich lese sie neu und denke mir: Ist ja sehr gut! So ist manipogo auch Lebenshilfe für den Autor, der sich selber hilft.)
Tempo di pace (Friedenszeit, 1965) ist schnell erzählt. Gleich am Anfang wirft uns der Erzähler in einen Widerspruch: Alle in der Stadt halten ihn für glücklich, denn er ist jung, vermögend, steigt auf der Karriereleiter hoch und hat eine ehrliche Frau als Gattin; er hält sich allerdings für verdammt. Dann (und denn):
Mein Leiden wurde mir in einer Nacht vor wenigen Jahren offenbar, mitten im Krieg. Seither sehe ich mein Leben, wenn ich auf es zurückblicke, in zwei deutliche Bereiche geschieden. Der erste, vor jener Nacht, ist eine Art Zwischenreich, in dem ich mich gedankenlos, frivol und anmaßend bewegte, so dass ich heute nicht anders als mich dafür schämen kann; der zweite ist der, in dem ich mich jetzt bewege, und er enthält nichts Anderes als Fiktion, dunkle Unordnung und Feigheit.
Er und seine Frau hatten ein 16-jähriges Hausmädchen, Margherita, das andauernd lachte und ihre Arbeit gut verrichtete. Doch dann verschwanden Sachen der Dame des Hauses: Ohrringe, Ketten, auch Geldbeträge. Die Ohrringe wurden in der Schürze des Mädchens gefunden. Der Erzähler klagt sie als Diebin an, und sie wird in die Besserungsanstalt gesteckt. Dann kommt die besagte Nacht: Bombenalarm, alle verschwinden in den Kellern, doch die Besserungsanstalt wird getroffen und Margherita stirbt. Und seine Frau gesteht ihm, sie sei eifersüchtig gewesen und habe die Objekte dem armen Mädchen untergeschoben. Er allerdings war es, der sie denunzierte und ans Messer lieferte …
Er kann das nicht wiedergutmachen. Wie soll es weitergehen? Will er noch jahrelang sich als geprügelter Hund fühlen? Vielleicht gelingt es ihm, sich von der Frau zu trennen und fortzugehen, woanders ein neues Leben anzufangen, befreit von den Erinnerungen, die ihn in dieser Stadt verfolgen und mit der Absicht, ein neuer, besserer Mensch zu sein. Er könnte zum Beispiel in einer Besserungsanstalt arbeiten …