Rita und Eami
Wir waren ja erst am vorletzten Tag der Filmfestspiele angereist, die 10 Tage dauerten. Am Freitagabend wollten wir einen Film auf der Piazza Grande sehen, um die Atmosphäre dort mitzuerleben. Samstag war dann Kinotag, wie sahen insgesamt 3 Filme und 8 Kurzfilme.
Auf der Piazza lief Rita von der spanischen Schauspielerin Paz Vega, deren erste Regiearbeit es war. Wir werden ins Sevilla der 1980-er Jahre geschickt, wo die 7-jährige Rita und ihr Bruder in einer kleinen Wohnung leben, mit der liebevollen Mutter Mari (gespielt von der Regisseurin, die ihre Kindheit verarbeitete) und ihrem cholerischen, unsensiblen Vater José Manuel. Ernst wird es, als Mari mit dem Gedanken spielt, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen. Der Film ist schön aus der Perspektive der kleinen Rita erzählt, deren Schauspielerin vor dem Film auf der Bühne über ihren »Bruder« sagte, er sei ihr zunächst unbekannt gewesen, doch nun sei er fast wie ein Bruder für sie.
Die Filmfestspiele Locarno fanden zum 77. Mal statt. Als sie vor 40 Jahren in einer Krise waren, schlug ein Architekt vor, Filme auf der Piazza Grande zu zeigen, dem Hauptplatz. 8000 Zuschauer können dabeisein. Jeden Abend um 21.30 Uhr wird ein Film gespielt. Die Organisation ist etwas chaotisch (viele junge Mitarbeiter mit wenig Ahnung): Wir zahlten 50 Franken pro Kopf, aber keiner wusste, wo die Plätze waren; schließlich wurden sie gefunden, und wir landeten hinten in der Nähe des Projektors. Nach Rita wurde noch einmal Das Piano von Jane Campion gezeigt, ihr legendärer Film von 1993, doch das wurde uns zu spät, denn am nächsten Morgen um neun wollten wir Kurzfilme sehen.
Spannend ist es immer, im dunklen Saal zu sitzen und zu warten, bis die Leinwand sich belebt. Jours avant la mort de Nicky aus Kanada, der Titel war für mich, gesprochen wurde kein Wort, eine junge Frauz fuhr durch Kanada, hielt an, fuhr rückwärts, fuhr vorwärts. 19 Minuten dauerte der Film. Kurzfilme sind immer anders und überraschend.
Jonathan Leggett aus der Schweiz erzählte von seinem Leben mit dem Groove auf dem Tretroller, wobei man sich an Zerocalcare erinnert fühlte. Dieser geniale Comiczeichner aus Rom feiert auf Netflix Erfolge mit seinen autobiografischen selbstquälerischen Geschichten aus seiner Jugend im proletariischen Rom. Unbedingt anschauen!
Schön war What Mary Didn’t Know von der Griechin Konstantina Kotzamani. Eine Romanze spinnt sich an für die junge Mary auf dem Kreuzfahrtschiff Neoromantica, das meist von älteren Semestern belebt wird. Das Ende ist mysteriös und dennoch märchenartig, unendlich weit weg von den Kreuzfahrt-Klamotten im deutschen Fernsehen. Hier Kino — da Fernsehen, von dem man sich fernhalten sollte.
Der türkische Film mit den Themen Besessenheit und Verrücktheit war nicht so genial. Zwei Stunden Istanbul mit seinen Moscheen zu lauter, gewaltiger Musik … da hätten wir uns beser Akiplésa angeschaut, denn dieser Film der jungen Regisseurin Saulé Bliuvaité aus Litauen gewann den goldenen Leoparden, seit vielen Jahren Symbol des Festivals. (Freilich gab es viele Preise in vielen Kategorien.) In dem Film geht es um zwei 13-jährige Mädchen, die eine Model-Karriere machen wollen.
Der letzte Film am Samstagabend war Eami von Paz Encina aus Paraguay. Wir hören die Stimme der kleinen Eami, die mit ihrem Stamm von der Regierung aus dem Wald vertrieben wurde, in dem die Indianer Jahrzehnte gelebt hatten. Das war im November 1994. Der Wald war ihre Welt. Da ist nur diese Stimme, und wir sehen brackiges Wasser, Bäume und einige traurige Gestalten. Eami sagt:
Eami heißt Wald und auch Welt. Mir wurde beigebracht, den Wald in mir zu fühlen, und als ich bei den Weißen war, hatte ich keine Sorge. Meinen Wald konnte mir keiner nehmen.
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