Jane Campion in Locarno

Wir fuhren vergangenen Freitag spontan nach Locarno, am vorletzten Tag der Filmfestspiele. Am letzten Tag gab es eine Stunde mit der neuseeländischen Regisseurin Jane Campion, die Das Piano und Ein Engel an meiner Tafel gedreht hat. Sie vezauberte alle durch ihre Natürlichkeit.

Jane Campion musste über ihre Kindheit sprechen, die sie vornehmlich in Australien verbracht hatte. Geboren wurde sie vor 70 Jahren in Wellington, der Hauptstadt Neuseelands. Sie sagte:

Es ist schwierig, sich zu definieren, wenn man im Schatten der Eltern steht.

Sie war zwar sportlich gewesen als Kind, doch auch oft krank. Sie verbrachte viele Wochen im Bett, und Einsamkeit sei hilfreich gewesen — »um tiefer in mich einzudringen, und so kam ich schließlich zum Film«.

Sie schilderte:

Das filmische Sehen ist wie eine Sprache, die du erlernen und verinnerlichen musst — wie man eine Einstellung liest; wie man Ideen ökonomisch umsetzt. Dabei lernt man sich kennen, und ich fand heraus: Ich bin eine Erzählerin.

Die technische Seite sei nicht zu unterschätzen, man habe so viele Möglichkeiten, schon allein durch die Wahl einer bestimmten Kameralinse (aus vielen verfügbaren). Nahaufnahme, Totale und »wide shot« … das müsse man entscheiden, und auf dem Set könne sich wieder alles ändern.

Jane Campion bewunderte den Australier Peter Weir (Fearless! Er wird am 21. August 80!), David Lynch, Jim Jarmusch und Agnes Varda, außerdem die Filme Mad Max und Apocalypse Now.

Manchmal habe sie sich angesichts von Kritikern gefragt: »Warum kann er nicht sehen, was ich sehe?« Gelernt habe sie auch die Feinarbeit am Material (editing), und darin sei sie gut. Dieses »Editing« ist die Montage des gefilmten Materials. Manche Regisseure bringen Monate am Computer zu; früher mussten sie das Material am Schneidetisch zusammenkleben. Vor 30 Jahren sagte der polnische Regisseur Krzystof Kieslowski (Dekalog; Drei Farben rot, blau, weiß), für ihn seien für das Gelingen eines Films drei Dinge entscheidend: das Drehbuch, das Casting und die Montage. Vom Filmen redete er nicht viel; das bringe viele Einschränkungen mit sich, echt frei fühle er sich erst bei der Montage. Man könne mit dem Material 5 unterschiedliche Filme zusammenbasteln. Er stelle eine 3-Stunden-Fassung her, die zu lang sei, dann eine Fassung von 1:20 Stunden, die sei zu kurz, aber so nähere er sich dem Endprodukt an.

Als Jane Campion Fördermittel für einen Film brauchte, habe sie eine Firma besucht, und dabei ging es plötzlich darum, einige Stühle auszuprobieren: welche am bequemsten wären. Die Leute der Firma hatten ihr Script gar nicht gelesen, sagten aber ihre Förderung zu. Warum? »Wir mögen Sie.«

Der Interviewer hob lobend hervor, sie habe so viele Regeln gebrochen. Und sie habe die Gefahren der Liebe oft dargestellt. Da protestierte die Campion:

Ich dachte immer, Liebe ist das Beste überhaupt. Ein witziger Ausdruck ist, verzweifelt oder unsterblich verliebt zu sein. Die »romantische Liebesgeschichte« ist jedoch eine Krankheit.

Dann ging’s wieder um Fragen des Kinos. Das Casting, also die Rollenbesetzung, sei eine höchst schwierige Sache. Regisseure sind auch sehr unterschiedlich, und Jane Campion habe einmal Harvey Keitel gefragt, der ein Star war, ob er sich ihren Anordnungen fügen werde? Natürlich werde er das, sagte Keitel, aber er würde es ihr auch gerne zeigen, wenn er eine Szene gern anders spielen wollte.

Jane Campion hob noch hervor, dass ein Geheimnis viel Energie besitze. Sie wies noch lobend auf 3 Männer hin: den Komponisten Michael Nyman, der die Musik zu den Greenaway-Filmen beigesteuert habe; Jimmy Armstrong (wenn ich den Namen richtig verstanden habe), einen wichtigen Förderer; und Geoff Whitman, den australischen Ministerpräsidenten, der die Schulgebühren in Australien abschaffte. Gegenwärtig gebe sie interessierten jungen Leuten kostenlos Unterricht im Filmemachen, und Netflix finanziere die Initiative.

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Nach der Rückkehr sah ich dann auf Netflix ihren Film The Power of the Dog, für den sie 2021 einen Oscar für die Regiearbeit erhielt. Der Film spielt vor 100 Jahren in Montana und erzählt von einem Brüderpaar. Der eine heiratet, der andere — ein gehässiger, aggressiver Mann — macht seiner Frau das Leben zur Hölle: eine Geschichte aus dem Leben. Die Musik ist exquisit und experimentell, und die Regisseurin bietet grandiose Landschaftsaufnahmen, und sie bleibt diskret: Wenn sie nahe dran war an einer Szene, blickt sie sie gleich aus der Ferne an. Alles steckt voller Bedeutungen und voller Geheimnis, jede Einstellung ist besonders: ein meisterlicher Film.

 

 

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