Der Zuschauer

Gestern, an dem heißen Sonntag, fuhr ich mit dem Rad nach Grunern. Dort spielte wie jeden Sonntag um 14 Uhr mein Neffe Steffen mit einem Dutzend Freunden Fußball, also calcetto, wie das in Italien heißt. Ich war der einzige Zuschauer und wollte nicht mitspielen; später war ich kurzzeitig Torwart und ließ einen Ball durch, aber Steffens Teaam gewann 10:8. Doch als Zuschauer war ich wichtig. Die Spieler wissen, dass sie beobachtet werden; das bedeutet etwas.

Schon ein beobachtendes Bewusstsein schafft Bedeutung. Wenn ich mich beobachtet fühle, handle ich anders. Ich spiele Fußball oder lebe, spiele mich selbst, und für wen tue ich das? So fragte sich der slowenische Philosoph Slavoj Žižek (1949 geboren), von dem ich das erste Buch las. Es hieß Die Furcht vor echten Tränen, 2001 erschienen, und vorher hatte er schon 25 Bücher veröffentlicht und danach nochmal 30. Er fragt sich also: Für wen spielt man sich selbst? Antwort: Für den Blick des »großen Anderen«. Es gibt die Vorstellung, dass uns jemand beobachtet, dass wir womöglich der »Gegenstand des Traums eines anderen« sind.   

Ballonstart bei St. Gallen, 2008

 

Wenn ich vor zehn Leuten spreche, bin ich unter Beobachtung. Aber wenn es 100 sind, 1000, eine Million oder zehn Millionen, macht keinen großen Unterschied. Es ist das Bewusstsein dort draußen, das seinen Blick auf mich richtet, das mich beeinflusst. Ich bin alleine. Handle ich autonom oder habe ich das Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden? Es ist vielleicht mein Über-Ich oder Gott, denn es hieß früher: »Gott sieht alles.« Um sich richtig sehen zu können, will man gesehen werden. In Zürich sagte meine Mutter: »Wenn der oder der mich jetzt sehen könnte …« Wir stecken in einem sozialen Geflecht und brauchen den Blick des anderen, und schon aus der Quantenphysik weiß man um die Rolle des Bewusstseins.  

Das ist ein schweres Thema. Gerade Fußball ist eine Realität, die ein Spiel ist, aber dieses Spiel ist realer als die Realität, dass man fast meint, die Restwelt ist nur ein Anhängsel der Fußballwelt. 2001 gab es den Big Brother erst seit zwei Jahren, und mitterweile ist er im Fernsehen in allen zivilisierten Ländern präsent. Žižek schreibt: »Was, wenn der Big Brother immer schon da war, als der (imaginierte) blick, für den ich bestimmte Dinge getan habe, den ich zu beeindrucken und zu verführen versucht habe, selbst wenn ich allein war? Was, wenn die Sendung ›Big Brother‹ lediglich diese universelle Struktur greifbar macht?« Dass wir also nicht sind, was wir sind, sondern uns selber spielen? »Das begrüßenswerte Verdienst von ›Big Brother‹ besteht darin, uns an diese unheimliche Tatsache erinnert zu haben.« 

Das ist fast schon Schnee von gestern. Aber die rastlos verfertigten Botschaften auf dem iPhone zeigen uns, wie sehr wir von einem Zeugen abhängig sind. Wir wollen uns unserer Realität versichern, die anscheinend nicht so gesichert ist.      

Ein Kommentar zu “Der Zuschauer”

  1. Renate Frank

    … angeblich teilt sich ja die Menschheit in Exhibitionisten und Voyeure – im ständigen Wechsel nehme ich mal an …