Das Jahrhundertrennen (10)
Nun die Hauptversammlung, die für den Fortgang der Handlung ja wichtig ist. Im Sommer 2015 hatte ich dran gearbeitet, und ich erinnere mich noch, wie ich in einem Hotel auf Sizilien an meinen Versen feilte. Die Mutti war dabei, das vergesse ich nie. Wir verpassten in Rom die Maschine nach Zürich, flogen nach Paris und saßen in Charles de Gaulle rum, und sie maulte: »Jetzt könnten wir mal langsam wieder fliegen.«
Hauptversammlung
Dann sammeln sich die Spitzen des Vereins, die anderen gehen, wo sie gehen hin.
Es sind geladen Tillingham und Bykow, Loggle, und der Däne
Mikkelsen, der Norweger Pål Janssen, Vaclav Terezin,
Claude, Wälti von den Appenzellern, Nobel (der hat große Pläne),
Alma von Blankenhorn, der Wouters, Sascha Karmann
plus Terry Twain, sind zwölf Apostel und ein Oberboss.
Doch wer wird Petrus? Wer wird verraten Twain und wann?
Wir wissen’s gleich, obgleich man nun die Türe schloss.
Cranston Loggle flüsterte Bykow zu: „Der Geister-Shit,
der lässt mich kalt. Und dennoch geh ich mit
um Mitternacht zum Friedhof. Doch wichtiger ist der Verein,
dass er gut lebt, floriert und nicht geht ein.
Das gestern war schon programmatisch,
da kommt noch mehr, der Twain ist schon ziemlich sympathisch.
Doch wer wird ihn ersetzen? Wo ist der mit Niveau, der mit Format,
der Mann von Schrot und Korn, der Mann der Tat?“
Dorothy hat mitgehört: „Ich gebe euch den guten Rat,
denkt auch an Frauen, das wäre gut und kein Verrat.“
Twain muss nicht verraten werden, will nicht mehr kandidieren.
Oder? Der Präsident eröffnet den Termin.
„Mir ist bewusst geworden“, sagt er, „dass wir ja nichts verlieren,
wenn wir den Status quo belassen. Das Neue macht das Alte hin:
was wir erreichten, uns machte zu dem, was wir jetzt sind.
Die Phase nun ist kritisch, sieht wohl jedes Kind.
Ich stelle mich hiermit zur Wiederwahl.
Was davon haltet ihr, ist mir egal.“
Er blickt ringsum, die Blicke gehen nieder,
man macht die Miene starr, sagt jemand was dawider?
Nur Dorothy: „Ich war’s schon mal und finde: eine Frau
muss her. Wie wär’s mit Alma? Sie hat Mut, ihr ich vertrau.“
„Geht’s hier nur um die Neuwahl?“ fragt Nobel. „Denkt, was heut geschah.
Man hat uns bloßgestellt, wir wankten; das ist’s, was ich sah.
Die Ausländer, die hatten wir nicht hergerufen.
Die bunten Leute störten, irritierten uns und schufen
ein Klima der Unsicherheit, das unsre Messe alter Räder nicht verträgt.
Schuld daran ist Rudi, dessen Handschrift dieses Chaos heute trägt.
Er soll auf Lebenszeit die Veteranentreffen nicht wieder stören.
Ausschluss heißt mein Antrag, eine Antwort will ich hören.“
„Das kenne ich“, sagt Sascha Karmann, „ist Stil Seehofer, Stil CSU,
versteht von unsren Freunden keiner, lasst uns damit in Ruh.“
„Das können problemlos wir beschließen“,
wirft Wouters ein. „Er wird uns bald nicht mehr verdrießen.“
„Das hätte wohl“, schimpft Loggle, „viel früher schon geschehen sollen,
nachdem er klaute, einst in Lindau, ein Rad, um damit wegzurollen.“
„Der Antrag gilt. Zur Abstimmung!“ Sieben Hände gehen hoch,
gegen sechs Neins, Karmann, Janssen, Claude, Wälti, die beiden Frauen (allesamt),
die Rudi schätzen. Das Urteil ist eindeutig jedoch:
Rudi wird von Veteranenseite auf Lebenszeit verdammt.
Ist schnell vergessen. „Wollen wir erst die Punkte abarbeiten,
der Tagesordnung; oder sofort zur Wahl des Präsidenten schreiten?
Der neue leitet dann die Sitzung, ist besser, so dünkt mir.
Ich frage euch um eure Meinung, sagt es mir.“
Und alle nicken. Loggle meldet sich und sagt: „Das ist mir viel zu radikal.
Ein Mann und eine Frau. Wir brauchen einen dritten für die Wahl,
einen Kandidaten zusätzlich.“ Nobel murrt: „Gut, einen dritten,
macht dann doch, lasst euch doch bitte nicht so lange bitten!“
Pål Janssen findet’s öde, setzt sich zum Spaß auf den Wikingerhelm.
Da lachen viele. Alma von Blankenhorn hofft, dass man sie nicht wählt.
„Hey, Pål, du bist richtig, immer gut gelaunt, du Schelm!
Du bist der dritte Mann, die blöde Wahl uns langsam quält.“
Pål grinst und nickt. Warum denn nicht, kann ihm ja nichts passieren.
Die andren sind für Alma oder Twain, er ist ja nur Reserve,
kann ruhig darum mittun und auch kandidieren.
Nun Pause. Alle stehen auf, beraten sich, mit Wut und Schärfe.
Die Gegner Twains, die wollen einfach diesmal keine Frau.
Die Dorothy, die war genug. Die Frauen, die für Alma, sind zuwenig.
Twain habe wenig Führungsstärke, munkeln manche, „schau,
wie dieses Treffen ist, wir bräuchten einen andren König.“
„Willst du den Scherzbold aus dem hohen Norden?
Schnell ist aus unserem Verein ein Witz geworden.
Was kann das geben? Twain ist elegant und angesehen.
An ihm führt hier kein Weg vorbei, das müsst ihr doch verstehen.“
Kein Weg vorbei führt an der geheimen Wahl.
Ein jeder schreibt auf einen Zettel einen Namen.
Sie werden eingesammelt. Wouters wertet aus. Das Warten wird zur Qual.
Und alle stehen auf, gehen herum. Das sind die echten Dramen!
Pål Janssen lässt das kalt, den Mann aus Drammen in Norwegen.
Schaut aus dem Fenster. Wouters ruft: „Es ist entschieden!
Wir haben einen Präsidenten.“ Und er sagt verlegen:
„Es ist sehr knapp, doch nun herrscht endlich Frieden.
Vier Stimmen für Frau Alma, vier für Terry Twain,
und fünf für Janssen Pål aus Norwegen, wir nehmen also den!“
Pål dreht sich um, begreift es nicht, hört das Gemurmel „irre Sache“
und meint: „Wenn ihr das wollt, dann ist es klar, dass ich das mache.“
Hebt seinen Helm. Man klatscht. Er neigt das Haupt.
Alma von Blankenhorn fällt Pål gleich um den Hals.
Terry Twain sieht aus grad wie ein Kind, dem man das Spielzeug hat geraubt.
Der dritte Kandidat! Das ist ein Ding! Historisch, allenfalls.
Am Friedhof
Während im Verkehrsmuseum sich Historisches vollzog,
waren die bunten, fremden Radler längst am Friedhof angelangt.
Passanten hielten ihren Zug für eine Emigranten-Demo, doch das trog,
kein Radler trug ein Transparent, kein Spruchband prangt.
Die Raga-Meister waren traurig, ihre Instrumente
Blieben in dem Sarg am Schloss, behielt sie doch die Polizei.
Als Trost war auf nem Tandem Gottlieb Stellmach, knapp vor seiner Rente
und spielte auf der Ziehharmonika so manchen Marsch, zwei, drei!
Das gab dem Umzug unsrer schönen Fremden eine irreale Note.
Ram, Sapad und Har mussten da leiden. „Klingt ja wie Wurstsalat“,
sagten sie bei sich, „Wer erträgt die deutschen Märsche, höchstens Tote.“
Manch einer wünschte sich glatt einen Mordanschlag, ein Attentat.
Mahindi hatte Geisterseherin Miranda in die Rikscha eingeladen.
Bellaire fuhr stolz ihr Blumen-Rad und ignorierte Wladimir.
Steve zeigte seine Muskeln, eingeölt, und seine starken Waden.
Miranda rief dem Fahrer zu: „Rechts, siehst du ihn? Marco ist hier!“
Die Reise dieser dreißig kam mehrmals zu einem unerwünschten Halt.
Es gab nicht Angriffe und Gegendemos, sondern Fahrradpannen.
Drei platte Reifen auf drei Kilometern, ach, es fehlte halt
ein guter Schrauber wie Claude, Steisbein oder Terezin. Von dannen
ging’s nicht gleich. Es wurde länger und erregt dann diskutiert,
was nun zu tun sei. Werkzeug fehlte. Zum Glück halfen oft Passanten.
Ernst Wunder, Pierre Latigue und Sofia waren enerviert.
Die beiden fingen an zu streiten bös, als sie so lange standen.
Dann fuhr die Rotte wieder los. Erreicht schließlich auch das Portal
Des Hauptfriedhofs, nach scheinbar endlos langer Dauer.
Ernst Wunder meint: „Ich wusste es, wir schaffen es einmal.“
Der Polizeiwagen rast weg. Ein Mord? Die Insassen sind einfach sauer.
Die Tore stehn weit offen. Pluto auf dem Cruiser, mit dem langen Bart
nebst Sue und Rudi, stehn bereit, die Angekommenen gut zu empfangen.
„Wie schön, euch hier zu sehen. Hattet ihr auch eine gute Fahrt?“
fragt Rudi. „Wir dachten schon, ihr würdet nie hierher gelangen.“
Ernst Wunder sagt: „Da fehlt es an der deutschen Effizienz.“
Nun läutet Pluto, schreit: „The Dead are waiting. Follow me!“
Beim Drais bekommen Moslems, Hindus, Christen nun eine Audienz.
Er hat ja Zeit, bewegt sich fort von seiner Stele nie.
„Das Radfahren ist auf dem Hauptfriedhof leider verboten.
Jedoch ist das ne Ausnahme; und Pluto nimmts auf seine Kappe.
Die Seelen sind nicht hier auf diesem Spielplatz, alles ist Attrappe.
Und überhaupt, das Radeln hier nehmen nicht übel meine Toten.“
Zu fahren sind bloß fünfzig Meter, gerechnet von dem Tor.
Verzweigen sich zwei Wege, es öffnet sich ein Rasenstück.
Da sehen sie das Kunstwerk aufgerichtet, parken schon davor
Und scharen sich darum herum. Herr Pluto fährt zurück.
Karl-Heinz Steisbein steht ganz unauffällig hinten in der Reihe.
Keiner macht Anstalten, zu einer Rede auszuholen,
wo ist der junge Monsignore, für die Stelenweihe?
Streitet sich wohl mit Peppone oder betet mit dem Polen.
Der Historiker, den nun das Schweigen stört, tritt vor
Und sagt auf Englisch, ohne diesen deutschen „baron“
gäb es vielleicht das Fahrrad nicht. Der gute Mann, der reine Tor
(er nennt ihn „the good-hearted fool“) gehöre zu den großen Herren.
„Er hatte Mut und zeigte sich mit seinem hölzernen Gerät
Auf allen Straßen hier, alle lachten, als er kam, vom Wind gebläht
sein Kleid, er fuhr von Mannheim in das heutige Rheinau,
weit schneller als ein Wanderer, wie die gesengte Sau.
Ein ‚baron‘ wollte er nicht sein, erfand auch viele andere Geräte,
ein Fahrzeug, das auf Schienen fährt, und ja, was täte
man ohne ihn. Er hatte wenig Glück, starb arm.
Wir denken seiner; dass ihm Gott erbarm!“
Nun senken alle ihre Blicke, schweigen alle wieder.
Die Raga-Meister treten auf die grüne Wiese dann
und summen, singen ein paar indische Lieder.
Hassan stimmt danach ein kehlig-raues Lied der Wüste an.
Nie hat an solcher Stelle man solches gehört.
Es stehen manchen Tränen in den Augen,
so sehr hat sie die fremde Melodie betört.
Rudi flüstert Karl-Heinz zu „Das könnte taugen
als Höhepunkt des ganzen Festes.“ Nun wieder Stille,
intensiv wie ein lautes Gebet. Ein Vogel langsam nähert sich
und setzt sich oben auf die Stele, als wär es der Wille
einer göttlichen Instanz: Der Dank von Drais ist’s sicherlich.
Die Versammlung löst sich auf, fährt langsam und benommen
hinfort, begegnet einem aufgeregten Monsignore auf dem alten Rad,
der sich beeilt, dann doch etwas zu spät gekommen
und für den Drais an seinem Denkmal noch ein paar Segenswünsche hat.
Dann fährt auch er; und vor dem Denkmal stehn nur noch
Rudi und Karl-Heinz, Sue hält sich im Hintergrund.
Obgleich schon vieles wurd gesagt, drängt es die beiden doch,
sich auszutauschen, zu gehn den Dingen auf den Grund.
„Er war ein guter Mann“, sinniert Herr Steisbein, „Erfinder
wie er sind reine Seelen, sind oft reine Kinder.
Gab freiwillig den Freiherrn-Titel auf, die Preussen zwangen
ihn, ihn wieder anzunehmen, und man muss sagen, ihm gelangen
ganz große Würfe: mit der vierrädrigen Draisine,
die natürlich, wie man weiß, lief auf der Schiene,
war er, denk ich, dem Auto schon ganz nah gekommen.
Sein großes Werk: das Laufrad, das er selbst unter die Bein‘ genommen
und fuhr, obwohl die Leute grinsten, von Mannheim nach Schwetzingen hin,
für ihn war’s kurz, doch für die Menschheit war’s ein Hauptgewinn.“
Rudi denkt nach: „Schon komisch, dieses badische Patent,
das er im Januar achtzehn-achtzehn kriegt am End.
Ach ja, weißt du, dass ein Jahr später Goethe schrieb, es täten
sich Burschen um im ‚Paradies‘ von Jena mit den Laufgeräten?
Das Paradies, es war ein Park, und Goethe hat es miterlebt,
den Fortschritt sah er schon, die bürgerliche Welt, die strebt‘
nach immer mehr Macht, Reichtum, Schnelligkeit,
wie wahr, es kam so und ist so bis heut, in unsrer Zeit.
Das „Veloziferische“ war sein Begriff dafür mitunter,
velox für schnell, verbunden mit dem Luzifer, worunter
man den bösen Engel sieht, der gegen Gottes Herrschaft rebellierte.
Er kam mit lux, dem Licht, zum Menschen, den er so emanzipierte
wofür die Strafe kam, wie für Prometheus, der dem Menschen Feuer brachte
Und damit, sinnbildlich, Bewusstsein drin in ihm entfachte,
und Drais erging es ähnlich: Er wollte Bürger sein, nicht Freiherr Drais,
wofür die Preußen ihn bestraften, Drais, der sein Gerät setzte aufs Gleis.
Doch bleiben wir bei achtzehnachtzehn, da war er im Jesus-Alter,
in voller Kraft, ein nichtsahnender Welt-Beweger und -Gestalter.
Du rechne mal: die Quersumme der Jahreszahl ist: neun.
Dahinter steckt was, und davor ist nicht zurückzuscheu’n.
Die neunte Karte im Tarot, das ist der weise Mann, der Eremit,
mit der Laterne, einsam, auf dem Rad, das er stets fährt im Schritt.
Die Neun ist zudem jene Zahl, die einen Kreis beschreibt,
in esoterischen okkulten Lehren, und sie bleibt
die Zahl, die alle vorherigen in sich schließt;
die Zehn fängt einen neuen Zyklus an, hier haben im Tarot
wir unser Glücksrad, Sinnbild der Fortuna, ebenso
bei den Ägyptern Zeichen für Reinkarnation,
das Rad der Wiedergeburt bei den Hindus; auf dem Thron
inmitten dieses Rads: die Sonne. Das Leben spielt uns viele Tricks,
das Glücksrad steht darum für alle Wechselfälle des Geschicks.
Noch was: Du kennst die Namen Gottes, diese zehn, die Sefiroth
Von Krone Kether oben geht es über Hod und auch Yesod
Hinunter zu dem irdischen, geerdeten Malkuth,
in dem unsre gesamte Schöpfung ruht.
Der Lebensbaum der Kabbala ist auch ein Zyklus,
der als ein Rad die Schöpfung abbildet, den ganzen Rhythmus,
und alle Wege zwischen jeder Sefira und ihrer Nachbarin
sind wie die Speichen eines Rads: Wieviel Bedeutung ist darin!
Zurück zur Neun: Wir wissen, dass wir in einer neunten Offenbarung stehen,
im Wassermann-Zeitalter, und einem Sieg des Geists entgegensehen.
Die Neun, der Kreis: der ist natürlich auch das Rad,
das uns nach vorne trägt und als Symbol uns stets zur Seite trat.
Der Kreis ist unser Rad, der Fortschritt, die Vollkommenheit,
doch auch das Zyklische der Zeit, die weitergeht in Ewigkeit,
bis alles endet und dann wird erneut geboren,
denn, so kam mir aus einem Buch zu Ohren,
zu leben heißt, in Ewigkeit zu leben,
nicht jetzt, in neuen Körpern, und dem Geiste zuzustreben.
Das Leben ist entzückend, doch auch Lug und Trug,
vor allem ist es kurz: Es ist ein einz‘ger Atemzug
zwischen zwei langen Nächten, die aber wach wir dann verbringen,
in denen Seligkeit nur herrscht: Wir lachen und wir singen.“
Steisbein lächelt fein und sagt: „Ach Rudi, mag’s so sein!
Das sind riesige Entwürfe, dafür bin ich zu klein.“
„Das Kleine siegt!“ ruft Rudi. „Schau den Drais! Ein Mann,
der seinen Traum verfolgte, glücklich, wer das kann!
Ein paar mehr wollen wir von diesen schönen Exemplaren,
und wir werden Rad und noch was und viel besser fahren.“
Sie reichen sich gerührt die Hände.
Der Vogel fliegt nun auch davon. Und Sue ist auch gerührt.
Steisbein geht, die Zeremonie ist nun zu Ende.
Rudi geht zu Sue, die seine Hand ergreift und weg ihn führt.
Nun sind wir wieder à jour. Es folgt die Veteranenspeisung