Maria
In Laurence Sternes A Sentimental Journey (1767) gefiel mir die Stelle, als der Erzähler in Moulines die halbverrückte Maria besucht und nett zu ihr ist. Schon zwei Jahre zuvor hatte er sie besucht. Maria lief danach zu Fuß zum Vatikan und durch die Lombardei, und als sie die Sinne verlor, starb bald darauf ihr Vater. Der Erzähler, Yorick, tröstet sie und verabschiedet sich bald von ihr.
Da fiel mir ein, dass der »Idiot« in Dostojewskis gleichnamigen Roman (1860) in der Schweiz gleichfalls ein armes, verrücktes Wesen trifft, das Marie heißt. Bei dem Russen ist alles natürlich viel schlimmer, der Pastor beschuldigt sie, die von einem Mann verlassen wurde, am Tod ihrer Mutter schuld zu sein, die Kinder werfen Steine auf sie, doch Fürst Myschkin, der Idiot, redet mit ihnen und schafft es, Veständnis für sie zu wecken. Dann lieben die Kinder sie, doch sie hat Schwindsucht und stirbt bald, und die Kinder pflegen ihr Grab.
»Sie setzte sich abseits nieder; einer der steilen, fast abschüssigen Felsen bildete dort einen Vorsprung; sie kauerte sich in einer versteckten Ecke auf einen Stein hin und saß den ganzen Tag, vom Morgen bis zur Stunde, wo die Herde zurückkehrte, fast reglos da. Sie war von der Schwindsucht schon so schwach, dass sie meistens mit geschlossenen Augen, den Kopf an den Felsen zurückgelehnt, dasaß und schwer atmend schlummerte; ihr Gesicht war mager wie das eines Skeletts, und Stirn und Schläfen waren mit Schweiß bedeckt.«
Freilich, bei Laurence Sterne sitzt Marie dekorativer, mit weißem Kleid und aufgelöstem Haar, und an einem grünen Band hängt ihre Pfeife. Dann weint sie, und Yorick wischt ihr die Tränen ab. Das ist natürlich sehr auf Effekt gemacht, aber trotzdem ergreifend, noch vor Charles Dickens. Da gibt es keine Feindschaft aus dem Dorf, nur den Spruch »Gott mildert den Wind für das geschorene Lamm«.
Ich weiß nicht, ob Dostojewski Laurence Sterne kannte oder schätzte, aber beide Romangestalten – Yorick und der Fürst − sind mitfühlend und gut. Sie fühlen sich Marie/Maria nahe, einer Außenseiterin, Schäferin und durch einen untreuen Liebhaber gezeichnet, von Sinnen und lebend in der Natur. Hundert Jahre in der Literaturgeschichte trennen sie. Auch andere Namen wären denkbar gewesen, aber: Maria. Es ist der Urname der Frau. Von der Mutter Jesu weiß man nicht viel, aber man hat sie in viele Legenden eingebunden, sie durfte in den Himmel auffahren und wird überall verehrt, auch als Schwarze Madonna, und dann gab es noch Maria Magdala, die mit dem späteren Jesus zu tun hatte.
Sie kümmerte sich mit Marie Jacobé und Marie Salomé um den Körper des gekreuzigten, und die drei fuhren später mit dem Schiff nach Südfrankreich. Marie Madeleine (Magdala) begab sich in Richtung Marseille, die anderen beiden Marien bauten eine Kapelle, gemeinsam mit ihrer Dienerin Sara. Das ist die Kirche des Saintes-Maries-de-la-Mer.
Wir haben also vier Marien, wenn wir Jesu Mutter hinzunehmen. Maria ist ein besonderer Name, der Name der Frau, bei Dostojewski und Sterne zurückgekehrt in die Natur, fern von den Menschen, nah den Tieren, schutzbedürftig und Mitleid erregend, also gewiss auch ein männliches Traumbild.