Zehn Jahre später

Ich fing an, mir die Filme der CNN-Serie Parts Unknown auf Youtube anzuschauen. Anthony Bourdain war ein großartiger Erzähler und Reisejournalist, doch eigentlich ging es ums Essen. Die Filme sind rasant geschnitten und mit heißer Musik unterlegt, es ist wie ein Trip. Ausgestrahlt wurden sie (insgesamt 100) zwischen 2013 und 2018.

In alle möglichen Weltgegenden ist Bourdain und sein Team gereist. Überall bekam er Kontakt zu den Einheimischen und erfuhr, wie sie leben. Das verändert die eigene Sichtweise. »You get a bigger picture«, um es mit Anthony zu sagen. Es relativiert die Nachrichten der Medien, denn wenn von Krieg und Krisen berichtet wird, meint man immer, ein ganzes Land sei in Verwüstung. Da sind indessen die Million in Lagos (20 Millionen), die Millionen in Beirut (4) und überall die Menschen im Land. Sie nehmen die Maßnahmen der Regierungen hin, sie arrangieren sich.

Wie absurd das doch ist! Da wollen ein paar ältere oder alte Männer die Macht, und eine Menge junge Männer tun mit (oder müssen mittun) und erledigen die Drecksarbeit, überfallen Dörfer, töten Männer, vergewaltigen Frauen. Panzer rollen, Reden werden gehalten, die Gefängnisse füllen sich. Man sieht die Filme von Parts Unknown und informiert sich, was danach geschah und merkt: Nichts wird besser. Es wird eher noch schlimmer.

Bourdain war 2014 in Georgien. Er zeigte die groteske Stacheldraht-Grenze zwischen Georgien und Ossetien, das Putin von dem Land abgetrennt und einkassiert hatte. Und am Ende des Beitrags, beim Essen und Trinken (man muss sein Glas immer zur Neige leeren, und die Gläser werden immer größer …), fragte er in die Runde, wie sie sich Georgien in zehn Jahren vorstellten. Ob sie optimistisch seien? Die meisten waren optimistisch. So ist der Mensch, zum Glück. Zehn Jahre danach (Oktober 2024) fand eine Parlamentswahl statt. Die Heinrich-Böll-Stiftung kommentierte:

Die Parlamentswahlen in Georgien 2024 signalisieren den Abstieg des Landes in den hegemonialen Autoritarismus. Die Regierungspartei »Georgischer Traum« hat die Wahlen gewonnen, indem sie die Wahlen manipulierte, das klassische illiberal-autoritäre Drehbuch anwandte, Desinformationen über den gleichzeitigen Verbleib auf dem EU-Erweiterungskurs verbreitete und die Bedrohung des Landes durch Russland instrumentalisierte. Wenn die Regierung trotz der Verstöße an der Macht bleibt, werden sich die Beziehungen Georgiens zur EU weiter verschlechtern. Viele der aktiven Bürger*innen des Landes werden in eine tiefe Depression fallen und auswandern. (Sonja Katharina Schiffers)

Gestern meldeten die Agenturen, in Georgien seien Menschen gefoltert worden, und der neue Präsident wolle erst 2028 wieder mit der EU über einen möglichen Beitrittt reden, was zu Unwillen und Demonstrationen führte. Desinformationen? Da wird gelogen.

Der Film von Parts Unknown über Libyen war 2013 gesendet worden. Es war nach dem Sturz Gaddafis. Freude, Überschwang. Der Diktator war weg. Doch dann  brach das Chaos herein über das Land. 2015 wünschten sich viele Gaddafi zurück.

Zwei Lager kämpfen um die Macht und damit um das Erdölgeld. Die neue Lebensfreude in Libyen wurde bald zu Todesangst. Am besten informiert man sich bei der Bundeszentrale für politische Bildung (Bpz). Die Seite Konfliktporträts schildert die aktuelle Lage in vielen Ländern von A bis Z. Das raubt einem alle Illusionen, dass die Welt in diesem Jahrhundert zu einer friedlichen werden könnte. Das dauert noch. Von den 40 innerstaatlichen Konflikten, die die Bundeszentrale darstellt, ist die Hälfte in Afrika und im Nahen Osten angesiedelt. Über Libyen:

Die in Tripolis amtierende, international anerkannte Regierung der Nationalen Einheit unter Premierminister Abdelhamid Dabeiba beherrscht mithilfe von mächtigen Milizen den Nordwesten des Landes. Ihr Einflussbereich wird maßgeblich durch türkische Militärbasen in der Region gesichert. Dagegen kontrollieren (der Warlord) Haftar und dessen Söhne mithilfe einer russischen Militärpräsenz den Osten, das Zentrum und den Süden des Landes. (Wolfram Lacher)

Und dann schaute ich mir noch den Parts-Unknown-Film über Beirut an, der 2015 im Juni herauskam, drei Jahre vor Bourdains Tod. Beirut, diese wunderbare lebendige Millionenstadt! Da relativiert sich wieder alles. Die Israelis haben zwar die Stadt bombardiert, doch sie haben nur ein Areal mit einem Hochhaus zerstört. Die Millionen machen weiter, machen Party und gehen ins Kino. Freilich, in den Süden des Libanon sind israelische Soldaten auch eingedrungen. Östlich von dem kleinen Staat liegt Syrien, von dort kommen viele Flüchtlinge. Ein Mann aus Beirut sagte: »Unser liebster Nachbar liegt im Westen.« Das Meer.

Schlimm ist es derzeit im Sudan.

Die sudanesische Armee … sicherte sich nach einem erneuten Putsch 2021 wieder die vollständige Macht. Als die Einigung über die Integration der Rapid Support Force (RSF) in die sudanische Armee scheiterte, begannen im April 2023 Kampfhandlungen in Khartum. Die kampferprobte RSF unter General Hemeti Dagalo konnte zügig Teile der Hauptstadt und mehrere südöstliche Provinzstädte erobern, worauf die sudanesische Armee unter General al-Burhan mit Luftangriffen und Bombardierungen antwortete. Der von beiden Seiten brutal geführte Bürgerkrieg kostete binnen eines Jahres über 15.000 Menschenleben. (Manfred Öhm).

Die Hälfte der Bevölkerung ist vom Hunger bedroht, es gibt 13 Millionen Flüchtlinge. Die RSF geht schonungslos vor, es gibt Greueltaten. Die Rebellenkämpfer schlachten alles ab, entführen Mädchen und verkaufen sie, holen sich Kindersoldaten: alles wie damals die Armee des Joseph Kony in Uganda. (Oben links ein Monument, das an die vielen Opfer in den Jahren von 1985 bis 2005 erinnert.)

Die Regierung wird von Iran und Ägypten unterstützt, hinter den Rebellen stehen Saudi-Arabien und die Emirate. So kommen Waffen ins Land, so gehen die Scharmützel weiter. Die Soldaten lassen keine Versorgungsgüter durch und greifen Krankenhäuser an. Die Zivilbevölkerung als Geisel einer enthemmten Soldateska, der nur die Waffe in der Hand Macht verleiht.

 

 

 

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