Kreativität

Vladimir Nabokov hat gerne Interviews gegeben. Da flatterte mir aus einem Buch ein Zeitungsausschnitt der Neuen Zürcher Zeitung entgegen, in dem es um zwei Nabokov-Interviews von 1961 und 1964 ging. Der Meister sprach auch über Kreativität.

Nabokov: »Kreativität ist keine Disziplin, sondern – ein Zustand. Weder Ort noch Zeit, noch Umstände haben irgendeine Bedeutung. Ich schreibe oft in der Badewanne. Ich kann in der Früh, kann auch nachmittags oder nachts schreiben. Bisweilen schreibe ich gleichzeitig an zwei verschiedenen Büchern oder fülle viele Seiten, die zu verschiedenen Kapiteln gehören. Stets habe ich meine Notizzettel und einen Bleistift bei mir. (…) Oft arbeite ich auch im Auto. Fast die ganze ›Lolita‹ habe ich unter Platanen an einem Straßenrand verfasst …« 

Das Paradies ist vermutlich auch ein Zustand und kein festgelegter Ort. Natürlich kann man sich konditionieren und nur zu einer gewissen Zeit kreativ sein wollen, und der Geist ist dann auch bereit. Aber damit macht man sich zum Automaten. Wer es drauf hat, kann immer kreativ sein. Aber was heißt das schon? Das Wort ist zu sehr aufgeladen worden. Creare heißt auf Italienisch einfach erschaffen. Manche Schöpfungen gehen aus dem Material logisch hervor. Aber mag irgendwer entscheiden, was kreativ ist.  

Stück aus der „Kunsteisbahn“, zu sehen bei Angelo Chemelli im Bauarchiv St. Gallen

Kreativität bedeutet für den Physiker Hans-Peter Dürr, »Bedingungen zu schaffen, in denen die Vorhersagen nicht mehr funktionieren«. Etwas Neues! Ein neuer Horizont öffnet sich. Viele kreative Menschen gingen »gewissermaßen in einen ›kreativen Dialog‹ mit ihrem Material«. Erst Ahnung, dann Inspiration, schließlich Ausführung: das Handwerk. 

Das mit dem kreativen Dialog verstehe ich gut. Ich ging sieben Monate mit meinem Zeit-Buch um und merkte, dass man etwas Gutes und Neues nur schaffen kann, wenn man unausgesetzt in seinem Material lebt. Ich träumte davon, ich dachte beim Radfahren daran, und es war, als würde der ganze Text vor meinem geistigen Auge ablaufen, und plötzlich wusste ich: Da, im zweiten Drittel, ist ein Satz, der nicht stimmt.  

Ich hatte jeden Abend acht bis zehn Punkte, die ich noch einarbeiten wollte. Ich strich Passagen, stellte Abschnitte um, fügte Anekdoten ein; ich war ›connected‹, kein Mensch redete mir drein, es war ein einsames Ringen mit dem Material, mit nur mir als Richter. Du musst völlig eintauchen, nichts anderes mehr kennen.

Du hast Angst vor deinem eigenen Text, der dir erst lieblos und hölzern vorkommt, du bist verzweifelt und fühlst dich vor dem Scheitern; am nächsten Tag bist du euphorisch, und es geht nur darum, dass dieser Text dein Text wird, wie ein Bild zum Maler selbst wird, das zu ihm zurückblickt Tag für Tag (so ist es mir auch ergangen, der Text schien mir Vorwürfe zu machen), und dann, eines Tages (das war bei mir erst Mitte Juli), ist man verliebt! Ich liebe meinen Text. ER ist ICH.

Ein Kommentar zu “Kreativität”

  1. Renate Frank

    Ja, ich glaube es ist wie mit dem Glücklichsein. Das ist ja auch eine Geisteshaltung…