Das andere Ufer (2)

Im Dhammapada, dem Urtext des südlichen Buddhismus, lesen wir (Abschnitt 85): »Wenige sind jene unter den Menschen, die am anderen Ufer ankommen.« Das bedeutet: die Arhats werden (oder Boddhisatvas im nördlichen Buddhismus). Zum dem Weg ins gelobte Nirvana gibt es Schritte, und wer schon weit gekommen ist, der heißt »einer, der in den Strom getaucht ist«. Die anderen rennen an diesem Ufer umher.

Nun Teil 2 des Kyber-Märchens:

Er ließ alle die vielen seltsamen Dinge, die er bisher gesammelt hatte, hinter sich und wanderte dem Licht seiner ewigen Lampe nach, das andere Ufer zu suchen. Er sah viel Schönes auf seinem Wege, das er früher nicht gesehen hatte. Er sah, wie die Steine sich regten und formten, er schaute in die Träume der Blumen und er verstand die Sprache der Tiere. Allmählich aber wurde der Weg des Wanderers immer einsamer und verlassener, er stand allein in einer Einöde und vor sich erblickte er sieben steile, felsige Berge.

Die Lampe warf ihren Lichtschein auf seinen Weg und sie zeigte ihm an, dass er alle die sieben Berge besteigen müsse. So bestieg er alle sieben Berge und von jedem Berge hoffte er das andere Ufer zu sehen, aber er sah es nicht. Ein eisiger Neuschnee lag auf allen sieben Gipfeln. Mitten aber im Schnee blühte eine rote Rose, leuchtend wie ein Rubin. Die pflückte der Wanderer und nahm sie mit sich auf den Weg. Als er nun alle sieben berge bestiegen hatte und sich ihre sieben Rosen zum Kranz geholt hatte aus dem eisigen Neuschnee der Gipfel, da stand er vor einem dunklen Tor. Der Torhüter trat auf ihn zu und fragte ihn, was er wolle.

»Ich suche das andere Ufer«, sagte der Wanderer. »Was führst du mit dir auf deinem Weg?«, fragte der Torhüter. »Sieben rote Rosen und meine ewige Lampe«, sagte der Wanderer. Da ließ ihn der Torhüter in das dunkle Tor eintreten. »Es ist ein langes und dunkles Tor«, sagte der Torhüter, »du musst bis an sein Ende gehen, dann kommst du an das Meer der Unendlichkeit.« – »Ich will nicht an das Meer der Unendlichkeit«, sagte der Wanderer, »ich suche das andere Ufer. Das Meer der Unendlichkeit aber ist uferlos.« – »Du musst warten, bis die Sonne aufgeht, dann wirst du das andere Ufer sehen«, sagte der Torhüter.

Da ging der Wanderer durch das lange dunkle Tor hindurch und setzte sich am Meer der Unendlichkeit nieder, denn er war sehr müde geworden von seiner Wanderung. Das Meer der Unendlichkeit brandete zu seinen Füßen und über seinen wilden Wellen und dem einsamen Wanderer an seinem Gestade stand die gestirnte Nacht. Der Wanderer aber wartete und wachte bei seiner ewigen Lampe die ganze Nacht und es war eine so lange Nacht, dass er dachte, sie wolle gar kein Ende nehmen.

Endlich verblassten die Sterne, die brandenden Wellen wurden still und klar und über ihnen ging die Sonne auf. Im Licht der aufgehenden Sonne aber tauchte eine leuchtende Insel mitten aus dem Meer der Unendlichkeit empor. Da erkannte der Wanderer, dass es das andere Ufer war, das er gesucht hatte. Über das dunkle Tor kam eine Taube geflogen und zeigte dem Wanderer den Weg zur Insel und er schritt über das Meer der Unendlichkeit so sicher wie auf klarem Kristall hinüber zum anderen Ufer.

Vom anderen Ufer aber darf ich euch nichts weiter erzählen, so wenig als es die Lampe getan hat. Zum anderen Ufer muss ein jeder selber wandern im Licht seiner eigenen ewigen Lampe. Denn das Märchen vom anderen Ufer ist ein Märchen der Wanderer.

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.