So viele Treppen, mit dir
Man denkt manchmal an die vielen Menschen, die den Verlust einer geliebten Person verschmerzen und verarbeiten müssen. Das bleibt niemandem erspart. Eines der schönsten Gedichte von Eugenio Montale (1896-1981) habe ich noch nie verwendet, und heute tue ich es. Wie Quasimodo und Luzi und viele sonst setzte er in Xenien seiner Frau Drusilla Tanzi ein literarisches Denkmal.
Montale war Genueser, kam aber früh nach Mailand und schloss sich den literarischen Zirkeln an. Er hatte ab 1933 eine lange Affäre mit Irma Brandeis, obwohl er seit 1939 mit Drusilla Tanzi zusammenlebte. Erst als er 66 war, heiratete er sie kirchlich, im April 1963. Sie war schon 77, brach sich bald bei einem Sturz eine Hüfte und starb schon ein halbes Jahr nach der Eheschließung. Das Gedicht unten handelt von ihr.
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Ho sceso, dandoti il braccio, almeno un milione di scale
e ora che non ci sei è il vuoto ad ogni gradino.
Anche così è stato breve il nostro lungo viaggio.
Il mio dura tuttora, né più mi occorrono
le coincidenze, le prenotazioni,
le trappole, gli scorni di chi crede
che la realtà sia quella che si vede.
Ho sceso milioni di scale dandoti il braccio
non già perché con quattr’occhi forse si vede di più.
Con te le ho scese perché sapevo che di noi due
le sole vere pupille, sebbene tanto offuscate,
erano le tue.
Ich übersetze es mal selbst und schaue nicht auf die rechte Seite meines Buchs mit der deutschen Übertragung.
5
Hinab ging ich, mit dir am Arm, eine Million Treppen mindestens,
und jetzt, da du mir fehlst, ist Leere auf jeder Stufe.
Auch so ist unsre lange Reise kurz gewesen.
Die meine dauert an, und ich brauche nun nicht mehr
die Anschlusszüge, die Reservierungen,
die Fallen und die Schande dessen, der da glaubt,
die Realität sei das, was man vor Augen hat.
Ich ging hinab Millionen Treppen, dich am Arm,
und nicht nur, weil vier Augen sehen mehr als zwei.
Mit dir bin ich sie gegangen, da ich wusste: Von uns zwei
warst allein du scharfblickend, auch wenn mit Augen,
die verschleiert.
Ja, so ist das nicht schlecht. Montale, der Hermetiker, hat hier etwas Paradoxes herausgearbeitet. Sie sah richtig, obwohl kurzsichtig; sie las die Welt, sie erkannte vielleicht alles schneller. E cosí ricomincia / il tempo per l’occhio che riscopre la luce, schreibt Quasimodo. Die Augen, die Fenster der Seele. Ein Freund, der blind ist, hört alles im Radio, ist aber kritisch und, ja, scharfblickend. Giovanna sieht nicht räumlich, sieht keine Tiefe; und manchmal sagt sie einen Satz, in dem alles steckt, in dem alles drin ist. Wirklich sehen lernen ist ein langer Prozess.
317.000 Menschen haben für Wikipedia gespendet, las ich kürzlich. Gut, dass es sie gibt, aber verbesserungsfähig ist das Angebot. Eugenio Montale war einer der wichtigsten italienischen Lyriker des 20. Jahrhunderts und wurde 1975 mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt. Die deutsche Wikipedia gibt ihm ganze 10 Zeilen. Die englischsprachige beschreibt auch sein Leben und kommt auf rund 60 Zeilen, die italienische hat 150.
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