Glücklicher Odysseus

Vor 10 Tagen habe ich einen lieben Freund verloren; und ich erfuhr es erst vorgestern. Hatte länger nichts von ihm gehört, fuhr in die betreffende Institution, sein Zimmer war zu, und am Empfang sagte mir eine Frau (schräg lächelnd und zwei Mal), über den Herrn dürfe sie mir keine Auskunft erteilen. Da war der gute Michael schon eine Woche tot. Die Kälte und Gefühllosigkeit in diesem Land sind manchmal schwer zu ertragen.

Es kam der Rettungswagen, und am nächsten Tag war Michael Richard gestorben. Ich erfuhr das hintenherum über seine Mitbewohner. Sonst wäre ich vielleicht wochenlang im Dunkeln geblieben, seine Partnerin kannte mich kaum, und seine Angehörigen lebten weit weg. Der Michael wäre in den nächsten Tagen 85 Jahre alt geworden.

Doch er hatte eine unglaubliche Lebensenergie und auch Freude am Leben, obwohl er seit 7 Jahren blind war. Ärzte hatten ihn nicht ernst genommen und seine Behandlung verschleppt. Er strengte ein Gerichtsverfahren an und bekam so halb Recht. Und so saß er im Betreuten Wohnen, fuhr manchmal auf dem stationären Fahrrad, schrieb an seinen Memoiren und hörte viel Radio. Wenn ihn etwas aufregte. rief er mich sogleich an und redete es sich von der Seele. Es waren temperamentvolle Gespräche, in denen wir uns meist einig waren, und es waren auch sehr liebevolle Gespräche am Telefon. Er konnte mich ja nicht sehen, darum habe ich ihn selten besucht.

Einmal im Blog habe ich auf das Chanson Heureux qui commme Ulysse verlinkt, und das tue ich jetzt wieder. George Brassens hat das Lied gesungen: Glücklich bist du wie Odysseus, wenn du eine schöne Reise unternimmst, das Land mit den grünen Alleen besuchst: an einem Sommermorgen, wenn die Sonne dir ins Herz singt. Ach, wie schön ist doch die Freiheit, la liberté! Mein Pferd, meine Provence und ich! (Unten mein Fahrrad und ich mit anderen Radlern, und das sogar in der Nähe von Sète, wo Brassens lebte.) Wenn ich dieses Jahr nach Frankreich fahre, werde ich immer an Michael denken, den Frankophilen, der sogar eine Weile in dder Nähe von St.-Dié in den Vogesen lebte. .

Mir werden die Telefonate mit Michael fehlen. Er war gebildet und gefühlvoll, und manchmal rief er an, um zu fragen, wie ein bestimmtes Wort auf Italienisch laute. Immer wissbegierig. Er war in Müllheim großgeworden und arbeitete sein Leben lang als Architekt.

Doch man kann gar nicht richtig traurig sein. Jetzt ist der Michael frei, und sehen wird er auch wieder können. Es gibt viel Neues zu entdecken. Übers Jenseits hatte ich nicht viel gesagt, er glaubte nicht richtig daran, aber nun weiß er es besser. Du wirst nun glücklich sein, Odysseus, und vergiss mich nicht ganz!

 

 

 

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