Wie war es? (4) Chaim erzählt

Eine chassidische Legende wird uns in Das kabbalistische Totenbuch von Lewis D. Salomon erzählt (2012; bei Crotona veröffentlicht, für die ich 4 Bücher geschrieben habe). Der Erzähler ist Rabbi Elimelech von Lisensk (oder Lyschansk), der von 1717 bis 1787 lebte. Es ist also eine sehr alte Geschichte, ein Nachtod-Bericht. Teile daraus erinnern uns aber an paradiesische Visionen bei Nahtod-Erfahrungen. 

Über den Rebe Elimelech gibt es sogar eine Wikipedia-Seite, da er der Begründer des Chassidismus in Galizien war, im äußersten Südosten des heutigen Polen.

Der Rabbiner hatte einen guten Freund, Chaim. Er war ein ehrenwerter und gerechter Mann. Eines Tages wurde er schwer krank, und sein Tod wurde befürchtet. Auf dem Sterbebett bat er Elimelech, seinen Sohn Abe zu sich zu nehmen und ihn aufzuziehen. Der Rebe war gern dazu bereit, machte aber zur Bedingung, Chaim solle ihm mitteilen, »wie es auf der anderen Seite ist«. Chaim versprach es und starb bald danach.

Derartige Vereinbarungen trafen auch Freunde im England des 19. und 20. Jahrhunderts, und vielleicht gab es das auch in Deutschland oder Italien. Es gibt auch einen Fachausdruck dafür, der mir aber nicht einfallen will. Eingelöst wurde der Pakt (wenn es gelang) meistens durch begabte englische Medien, William James meldete sich zum Beispiel (denk an den roten Schlafanzug!), und unten gibt es einen Link dazu, in dem es um diese Vereinbarungen geht. 

Elimelech schickte Abe auf die besten Schulen und machte für ihn sogar eine Heirat mit der Tochter eines vermögenden Mannes aus. Der Rebe sollte die Trauzeremonie halten, doch er verspätete sich. Nach zwei Stunden sah man ihn durchs Schlüsselloch in Gebet und Meditation versunken, nach drei Stunden tauchte er endlich auf. Beim Empfang hinterher erzählte er, Chaim sei zu ihm gekommen, »wie ein vollkommen lebendiger Mensch«. Nun aus Solomons Buch:

Ich fragte ihn: »Nun, wie war’s denn?« – »Der Augenblick des Todes«, berichtete Chaim, »war ganz schmerzlos. Es war, als zöge man einen Faden aus der Milch.« (…)

Nachdem man seinen Körper ins Grab gelegt und mit Erde bedeckt hatte, wollte er in sein altes Haus gehen, hatte aber Angst vor einem Bach. Sollte er doch gehen oder bleiben – was sollte er tun?

Dann sah ich ein großes Licht und trat ein in die Welt der Wahrheit. Nach einem Lebensrückblick, bei dem mir noch einmal jeder Gedanke, jedes Wort und jede Tat meines Lebens vor Augen geführt wurde, stand ich vor dem Himmlischen Gericht. Dort wurde meine Lebensgeschichte abgewogen. Ich sah die Frevler im Fegefeuer, Ich entdeckte alte Freunde und hörte ihr schmerzerfülltes Schluchzen. Ich sah aber auch die weiten spirituellen Höhen und die Glückseligkeit der Gerechten im Paradies.

Dann sprach er mit einem Vertreter des Himmlischen Gerichts, der andeutete, er habe einen Platz im Paradies verdient. Er, Chaim, wolle aber zunächst sein Versprechen bei Elimelech einlösen, der gewiss vor Gott Wohlgefallen finde. So sollte es sein. Elimelech bat ihn, doch am Empfang teilzunehmen, doch Chaim sagte:

Halte mich jetzt, da ich mein Versprechen erfüllt habe, nicht auf. Ich kann dir die unvergleichliche Glückseligkeit im Paradies nicht mit Worten beschreiben. Alles Irdische hat für mich keine Bedeutung mehr.

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Freilich bietet die Legende auch traditionelle religiöse Vorstellungen. Aber: Das Licht erscheint, der Lebensrückblick ist vorhanden, und dann sagte Chaim wie viele andere Nahtod-Zeugen, er könne die Seligkeit nicht mit Worten beschreiben. Das Bild mit dem Licht zeigt zwar eine Kirche auf einer italienischen Insel, aber das kann man vertreten. – Eine irgendwie verlorengegangene Serie bei manipogo heißt Wie war es? Anfang 2020 begonnen, lief Teil 3 im Juli vor einem Jahr. Es ging zwar um literarische Jenseitsreisen, doch Chaim passt hinein. Fehlen noch Aenaeis und Odysseus. Holen wir nach.

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