Die weibliche Doppelnatur

Aus der Wolfsfrau kann man immer Stücke herausschneiden und sie anbieten. Clarissa Estés widmet eine Seite der Doppelnatur der Frauen. Sind Frauen eher janusköpfig als Männer? Verstecken sie mehr, weil sie sich in der Geschichte oft verstellen mussten? Sehen wir, wie unsere Autorin argumentiert.

Clarissa Estés:

Wer das Herz einer Wilden Frau gewinnen will, muss ihre Doppelnatur von Grund auf verstehen lernen. … Einer ungezähmten Frau nahezukommen, bedeutet, dass man zwei unterschiedlichen weiblichen Wesen auf die Spur kommt. Das erste existiert in der Welt der äußeren Erscheinungen, ist zumeist sehr pragmatisch, zivilisiert und völlig menschlich, das zweite Wesen hingegen existiert in einer weniger sichtbaren Welt, und, obwohl es hin und wieder an die Oberfläche kommt, um etwas erstaunlich Originelles, oft auch Weises zu verkünden, zieht es sich meistens recht schnell wieder in fernere Gefilde zurück und verschwindet – bis zum nächsten Mal.

Das Paradox der weiblichen Zwillingsnatur drückt sich zum Beispiel folgendermaßen aus: Wenn eine Seite eher gefühlskalt ist, kann man sicher sein, dass die andere leidenschaftlich glüht und sehr tief empfindet. Wenn eine Seite anhängich und kontaktfreudig ist, dann ist die andere Seite zumeist unantastbar und schwer zugänglich. Oft ist eine Seite genügsam und relativ angepasst, während die andere sich vor Sehnsucht nach »Ich-weiß-nicht-was« verzehrt. Diese »Zwei-Kräfte-in-Einer« sind zwei verschiedene und doch untrennbare Elemente, die in tausendfältigen Kombinationen in allen Frauen auftauchen. 

Sind wir nicht alle so? Wir zeigen uns routiniert so, wie man uns kennt. Erst der Partner lernt andere Seiten an uns kennen. Ich bin auch jnausköpfig durch meinen Zwillings-Aszendenten. (Übrigens befinden wir uns noch im Tierkreis im Zwillings-Monat, der am 21. Juni endet.)

Und: Nicht selten (nun meine Bemerkung, fußend auf persönlichen Erfahrungen) wird in Beziehungen die verborgene Seite gewissermaßen an den Partner delegiert, den man gewählt hat, weil er das ist, was man nur im geheimen sein kann. Gegensätze ziehen sich an, heißt es, wenn einen ein Paar aus  zwei völlig unterschiedlichen Charakteren irritiert. Etwas Gegensätzliches zieht mich an, weil ich jenen Charakterzug dumpf auch in mir spüre; warum sollte ich jemanden wählen, der in vielem mein Gegenteil ist? Bin ich Masochist? Auch Hass oder Widerwillen erklärt sich auf diese Weise; ich verspüre Abneigung, etwas in mir, das mir halb vertraut ist, springt darauf an; sonst wäre mir der/die andere gleichgültig.

Er/sie lebt das aus, wozu ich nicht in der Lage bin. Einer ist oft pedantisch, der/die andere schlampig, einer spontan, der/die andere berechnend.

Die Vorrede zu Verse für Zeitgenossen von Mascha Kaléko ist passgenau:

Quasi ein
»Januskript«

Wie Janus zeigt zuweilen mein Gedicht
Seines Verfassers doppeltes Gesicht:
Die eine Hälfte des Gedichts ist lyrisch,
Die andere hingegen fast satirisch. 
Zwei Seelen wohnen, ach, in mir zur Miete
– Zwei Seelen von konträrem Appetite.
Was ich auch brau in meinem Dichterkopf,
Stets schüttelt Janus einen halben Kopf.

Denn, was einst war, das stimmt uns meistens lyrisch,
Doch das, was ist, zum großen Teil satirisch.

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