Unsere Rüstung
Der Glaube richtet sich nicht nur auf ein höheres Wesen. Wir haben viele Glaubenssätze uund laufen mit ihnen durch die Gegend; wir tragen sie wie eine Rüstung und wollen nicht von ihnen abgehen. Unsere Überzeugungen geben uns Halt, können uns aber auch lähmen. Denken wir doch an den Placebo-Effekt: Der Glaube wirkt Wunder und Schrecken.
Wenn jemand glaubt, dass er gesund wird, wenn er also optimistisch ist, erhöht sich die Chance auf Heilung. Wenn jemand jedoch den Arzt für einen Gott hält, der ihm sagte, ihm blieben noch 3 Monate, dann könnte er nach 3 Monaten tatsächlich sterben. (Solche Geschichten gibt es leider.) Geben wir Rachel Naomi Remen das Wort, die in Kitchen Table Wisdom davon sprach:
Was wir über uns glauben, kann uns zu Geiseln machen. Über die Jahre habe ich gelernt, die Macht des Glaubens in den Menschen zu respektieren. Was mich am meisten erstaunt hat ist die Tatsache, dass ein Glaube mehr ist als nur eine Idee – er scheint die Art und Weise zu prägen, wie wir uns und unser Leben erfahren. Wie eine Lehre aus dem Talmud sagt: »Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind. Wir sehen sie, wie wir sind.«
Ein Glaube ist wie eine Sonnenbrille. Wenn wir einen Glauben mit uns herumtragen und durch ihn blicken, wird es schwierig, uns davon zu überzeugen, dass das, was wir sehen, nicht real ist. Mit unserer Sonnenbrille sieht das Leben grün für uns aus. Zu wissen, was wirklich ist, erfordert, uns daran zu erinnern, dass wir eine Brille tragen; wir sollten sie abnehmen. Einer der größten Momente im Leben ist, wenn wir erkennen, dass wir eine Brille trugen. Dann ist uns die Freiheit sehr nah. Es ist ein Augenblick großer Macht. Manchmal konnten wir wegen unseres Glaubens uns selbst und das Leben nicht im Ganzen sehen. Das macht nichts. Wir können das Leben ohnehin erkennen. Unsere Lebenskraft muss nicht gestärkt werden. Nur müssen wir sie manchmal befreien, wenn sie gefangen ist in Glaubenssätzen, Haltungen, Urteilen und Scham.
Wie viele Meinungen doch heute geäußert werden! Jeder hat eine Meinung, die oft nur auf Hörensagen und sekundären Quellen beruht. Und wie viele Vorannahmen besitzen wir hier im Westen! Da wäre ein Reset manchmal dienlich.Das meinen die Geschichten über Erleuchtung und Neugeburt: das alte Gestrüpp, das uns behindert, fortwerfen und neu hinsehen. Das geschieht zuweilen in einem Urlaub oder in einer Lebenskrise. Plötzlich sind wir im Leeren und fangen wieder neu an.
Beim Placebo-Effekt wird das besonders deutlich. Das Medikament trägt vielleicht nur 60 Prozent zur Heilung bei; der Körper heilt sich vorwiegend selbst. Der Glaube ans Medikament tut das Wunder. Heilungen gab es auch durch Leermedikamente, die sogenannten Placebos. Manchmal sollte man sich selbst entleeren und versuchen, die Welt neu zu sehen. Jeder Morgen ist ein neuer Morgen. Wir sind immer auf dem Weg, wir sind keine Automaten, die immergleiche Dinge tun müssen. Wir müssen gar nichts; wir sind frei, uns neu zu erfinden und durchzustarten.
